Offen für neue Gedanken

Ultraschall 2021 Viermal Soloinstrument und Elektronik am letzten Abend von Ultraschall, dem Berliner Festival für neue Musik

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Das Ensemble Experimental
Das Ensemble Experimental

Foto: Anja Limbrunner

Vom letzten Abend des Ultraschall-Festivals, einem dreistündigen Radiokonzert am Sonntag in rbbKultur, das heute (Dienstag) um 20:03 Uhr in Deutschlandfunk Kultur wiederholt wird – es ist im Übrigen, wie alle Festival-Abende, noch ein Paar Tage im Internet zugänglich –, soll hier zuletzt noch die Rede sein. Es waren eigentlich drei Konzerte hintereinander, aufgenommen an verschiedenen Orten zu verschiedenen Zeitpunkten, mit einer Gesamtdauer von drei Stunden. Im ersten Konzert gab es nur Stücke für Soloinstrument und Elektronik, gespielt vom Ensemble Experimental, das seit zehn Jahren besteht. Ich will mich auf dieses Konzert beschränken und nenne noch vorab die mitwirkenden Solistinnen: Maruta Staravoitava (Flöte), Teodoro Anzellotti (Akkordeon), Rei Nakarmura (Piano) und Esther Saladin (Violoncello).

Vor knapp elf Jahren begann ich, über die Berliner Festivals für aktuelle Musik zu berichten, anfangs über die MaerzMusik, Ultraschall kam 2016 dazu, und mein Interesse war von Anfang an ein doppeltes: nicht nur innermusikalisch vom Stand der Kompositionsgeschichte etwas zu erfahren, sondern auch zu fragen, wie sich in den Kompositionen die Gegenwart der Gesellschaft spiegelt, wie sie kommentiert und vielleicht sogar tiefer verstanden wird. Die Frage trat dieses Jahr in den Vordergrund, weil die Kombination Solistin versus Orchester oder Ensemble dergleichen schon immer erwarten ließ und es auch heute noch tut: Man nimmt den Solopart als Bild einer individuellen Subjektivität, die sich mit den Weltläufen auseinandersetzt, sei es dass sie ihren inneren Zustand auf ihre Umgebung projiziert, dargestellt durch ein sie willig „begleitendes“ Orchester, oder dass sie mit ihr im Streit liegt. Daran hat sich offenbar nichts geändert, nur worauf sich das solistische Ich als auf sein Nicht-Ich bezieht, ist ganz anders geworden. Es ist nicht mehr die Gesellschaft, die das Ich kennt, da es in ihr ja lebt, und in der es seinen Platz finden muss, oder mit deren Verfassung es nicht einverstanden ist; es ist eher eine Wirklichkeit überhaupt, in die sich das Subjekt „geworfen“ sieht, als wäre es gerade erst auf die Welt gekommen und begriffe von ihr gar nichts, zumal auch keine Mutterbrust zuhanden ist.

Diese Konstellation und auch die typischen Reaktionen darauf kann man schon länger auf Festivals studieren, insofern ist das diesjährige Erlebnis kein neues, aber zugespitzt will es mir doch scheinen. Die ersten beiden Stücke stellen naheliegende Reaktionsweisen dar. Im ersten, Ver-Blendung (2016) für Bassflöte, Akkordeon und Live-Elektronik von Detlev Heusinger, ist der elektronische Hintergrund ganz ungestalt, besonders am Anfang denkt man an Ligetis Cluster, dann auch an Wellen, sehr langsame Wellen, unaufgeregte, die keinen Sturm brauchen, um beim Landen zentimeterweise vorzurücken. Bezeichnend auch, dass die Grenzen zwischen elektronischem und Akkordeonklang verschwimmen. Die Blockflöte lässt sich davon begleiten, ist ihrerseits lyrisch gestalthaft und sehr melancholisch. Sie kennt sich selbst nicht, warum gibt es mich überhaupt, scheint sie zu fragen, und das ist ja auch kein Wunder im Angesicht des Gegenübers. Der Rezipient fragt, wie er den Titel verstehen soll. Wenn man sagt, jemand sei verblendet, sieht zum Beispiel den schlechten Charakter des oder der Geliebten nicht, unterstellen wir nicht unbedingt, dass jemand anders „schuld“ daran ist als der oder die Verblendete selber. Die Schreibweise Ver-Blendung legt aber nahe, dass die verblendete Person gezielt geblendet worden ist.

In diese Richtung scheinen die Gedanken des musikalischen Ichs in Round-robin (2014) für Akkordeon und Elektronik von Vito Žuraj zu gehen. Für den Titel gibt es eine Fülle möglicher deutscher Entsprechungen, Kreisverkehr und Diskussionsrunde, aber auch Ringkampf und Jeder gegen Jeden – Andreas Göbel, der Moderator des Radiokonzerts, sprach von einemWettkampf, wo einer gegen alle anderen antreten muss“. So gerierte sich tatsächlich das Akkordeon über weite Strecken; immer sehr aktiv und voller prägnanter Figuren, macht es gleichsam immerzu Angebote, doch sein Gegenüber ist nun einmal nicht von der Art – nicht gewillt oder nicht fähig, oder beides –, dass es sich auf ein Gespräch einlassen könnte. Es ist kein analoges Gegenüber im doppelten Wortsinn. Vermutlich deshalb schlägt das Akkordeon oft nur wütend um sich, womit aber auch nichts gewonnen ist.

Die gewichtigste Komposition dieses Konzerts war sicher ...hoc... (2006) für Violoncello und Elektronik des in Berlin lebenden Franzosen Marc Andre. Auch das Wort „hoc“, eigentlich wohlbekannt aus Wendungen wie „ad hoc“ („Ad-hoc-Hypothese“), steht für viele Bedeutungsnuancen. Hoc certum est würde man „(nur) so viel ist sicher“ übersetzen, hoc est mit „das heißt“, quo ... hoc maior wäre „je ... desto größer“, auch als „dadurch“ oder „deshalb“ kann das Wort vorkommen und noch in vielen anderen Bedeutungen. Da Andre es mit Punkten umgibt, kommt die Möglichkeit eines Wortbruchstücks hinzu, einer sinnlosen Silbe, weil man die Vor- und Nachsilbe nicht kennt. Der Komponist selber hat sein zwanzigminütiges Werk als ein „Protokoll“ bezeichnet. Es mutet sehr konkret an, weil man viele Geräusche wiederzuerkennen glaubt, so am Anfang etwas wie Sirenen, mehrere übereinander und lauter werdend, mehrmals von starken Schlägen „begleitet“ oder skandiert. Später nehmen sie katastrophischen Charakter an, etwa als verschmelze sich die Warnanlage mit dem, wovor gewarnt werden soll. Damit ist auch schon gesagt, was hier die Kompositionsweise zu sein scheint: Ausgewählte Geräusche, in idealtypischer Vereinfachung genommen, werden nicht einfach nacheinander hingestellt, sondern auseinander entwickelt wie in der Tradition, nur mit ganz anderen Mitteln und Inhalten, anderen Klängen ohnehin; ich glaube gar, man kann von „durchbrochener Arbeit“ sprechen, weil aus einem Gesamtgeräusch auch Motive abgespalten werden. Nach einer Weile meint man nicht mehr Sirenen, sondern heulende Motoren zu hören, manchmal knattern sie auch, und Autos, die eine Autobahn in der Ferne durchrasen. Wo das Cello aufhört und die Elektronik anfängt, oder umgekehrt, ist gar nicht zu unterscheiden. Hier hat sich ein Ich vollkommen, und gleichsam kommentarlos, mit seiner Umgebung identifiziert. Soll man sagen, das ist eine bekannte Umgebung? Dann müsste jemand erklären können, inwiefern Katastrophe, Warnung vor ihr und MIV, motorisierter Individualverkehr, ein und dasselbe sind.

Ich sage gleichsam kommentarlos, weil es ja doch ein Kommentar ist, ein Geschehen so darzustellen, als könnte zu ihm nicht Stellung bezogen werden. Andre hat tatsächlich ein „Protokoll“ komponiert, eine Folge musikalischer Aussagesätze. In der Formulierung von Aussagesätzen soll bekanntlich das Ich, das formuliert, von sich selbst möglichst vollkommen absehen, und nicht nur von sich als Person, sondern von aller Subjektivität überhaupt.

Bleibt noch Appulse (2017) für Klavier und Elektronik von Petra Strahovnik, die sich, wie sie sagt, als „Passagier im hier und jetzt“ versteht, „offen für neue Gedanken“. Auch bei ihr klingt das Soloinstrument, ein offenbar präpariertes Klavier, selbst schon elektronisch. Der monotone, lebendige aber ruhige Rhythmus soll wohl der Puls sein, aber wer einen so schnellen hätte, müsste schon irgendwie transformiert sein, wäre sonst tot. Es ist tatsächlich Erwartung, was sich hier ausspricht, gleichgültige, kam mir in den Sinn, da Strahovnik wirklich für alles „offen“ zu sein scheint – was auch kommen wird, es wird hingenommen werden. Aber da die Erwartung so angeregt, ja erregt ist, kann man sie nicht gleichgültig nennen, muss eher von einer religiösen Haltung sprechen, einem Warten auf Epiphanie; dazu passen die glockenähnlichen Klänge, die sich aus der Kombination von Klavier und Elektronik gelegentlich ergeben, auch eine kurze Ekstase zwischendrin ist unüberhörbar. Aber ist das nicht wirklich unser aktuelles Leben? Mit Fieber fragen wir uns, was die Zukunft bringt, direkt vor uns zeichnet sie sich schon ab, smarte Brillen und selbstfahrende Autos kommen auf uns zu, etwas später werden wir, nicht mehr einsam, von „intelligenten Tapeten“ umwandet sein und so wird es weitergehen, eine Entwicklung, für die es natürlich kein Subjekt gibt, nein, sie geschieht von selbst, allenfalls dass „die Technik“ sie hervorbringe, könnte man formulieren, aber warum dann nicht gleich von Gott als dem Schöpfer sprechen. Wie auch immer, das sind nicht Sachen, die irgendeiner Urteilskraft unterliegen, sondern es geht darum, die Augen zu öffnen, eben „offen zu sein“, und das ist ja wohl nicht zu viel verlangt. Dass Gott nicht jeden Schritt, den er tut, ökologisch bilanziert, können wir sicher nebenher konstatieren, es ändert nichts.

Ein Abend der Wahrheit also, ich fand mich mit meinen Fragen gut bedient und denke, dass es anderen ebenso ergeht. Danke für Ultraschall, danke, dass Ihr Euch auch von Covid-19 nicht habt lahmlegen lassen!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden