Offenbarungseid

Steuerausfälle Das neoliberale Erfolgskriterium zeigt seine Absurdität

Steuerausfälle von 61 Milliarden Euro werden bis 2007 erwartet. Nach der "Agenda" des letzten Jahres sind weitere und noch tiefere Einschnitte zu befürchten. Die Bundesregierung lehnt neue Einsparungen zwar ab. Sie will Schulden aufnehmen. Zugleich verspricht sie für 2005 einen verfassungskonformen Haushalt, bei dem die Investitionsausgaben über der Nettoverschuldung liegen müssten. Zu diesem Zweck muss sie aber weiteres Bundeseigentum verkaufen; welches, hat sie noch nicht gesagt. Der Staatsabbau hört jedenfalls nicht auf.

Wenn jetzt von der Regierung zu hören ist, dass Sparen allein nicht aus der Schuldenfalle führe, so mag das manchem, der es schon immer gesagt hat, angenehm in den Ohren klingen. Doch von einem neuen Programm, die Binnenkonjunktur anzukurbeln, ist keine Rede. Es gilt immer noch das alte: An der vorgezogenen Steuersenkung für 2005 wird festgehalten. Es bleibt also dabei, dass man vom Steuersenken mehr Steuern erwartet. Der circulus vitiosus ist perfekt. Neu ist die nun auch empirische Adabsurdumführung des Teufelskreises. Der hatte immer auch die zugespitzte Unsinnsform: "Je mehr Steuern wir senken, desto mehr Steuern erhalten wir." Das schien niemals empirisch widerlegt werden zu können. Wenn der erwartete Steuerertrag ausblieb, zeigte das eben, dass die Steuersätze immer noch zu hoch waren. Aber wie sich jetzt abzeichnet, ist der Unsinn vielleicht doch nicht erfahrungsimmun.

Am gleichen Tag, an dem die Steuerausfälle prognostiziert wurden, wurde auch gemeldet, die deutsche Wirtschaft wachse stärker als erwartet. Der Zuwachs im ersten Quartal dieses Jahres ist der höchste seit Anfang 2001. Die Wirtschaft wächst also, und die Steuern gehen zurück? Sie gehen ja nicht eigentlich zurück, beruhigt uns die FAZ: "Das Aufkommen steigt, nur eben weniger als gedacht." Aber das ist der Offenbarungseid des Neoliberalismus. Die Wirtschaft wächst, die Arbeitslosigkeit bleibt und der Staat verarmt weiter. Der Staat verarmt, obwohl das neoliberale Versprechen eines steigenden Steueraufkommens partiell sogar eingelöst ist. Was haben wir nun vom Wirtschaftswachstum gewonnen? Wenn nur die Wirtschaft selber davon profitiert? In diesen Begriff "der Wirtschaft" sind nicht einmal die Werktätigen eingeschlossen. Deren Rechte und Löhne sucht man ja zu verringern.

Man fragt sich, ob es nicht doch einen Punkt gibt, an dem die Politik gezwungen ist - schon weil sie nicht mehr weiter weiß -, den Neoliberalismus als falsifiziert anzusehen. Heute sehen wir klarer, in welcher Form er überhaupt falsifikationsfähig wäre: wenn er auf die Behauptung hinausliefe, Steuersenkungen seien gut, weil sie zu einer solchen Erhöhung des Steueraufkommens führten, die hinreichend wäre. Will er irgendetwas anderes behaupten als das, kann er das Gemeinwesen und den Staat nicht interessieren. Denn der Staat braucht nicht einen "höheren", sondern einen genügend hohen Steuerertrag für die Aufgaben, um derentwillen es ihn gibt. Warum diskutiert dieses Gemeinwesen nicht, was hoch genug wäre? Es glaubt doch niemand, dass "die Wirtschaft" zu arm ist, für ihren Platz im Gemeinwesen das Hinreichende zu bezahlen.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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