Ökologie der Zeitung

Medientagebuch Die Netzeitung war die erste deutsche Zeitung, die nur im Netz erschien. Seit Anfang dieses Jahres wird sie vollautomatisch erstellt. Suche nach Spuren des Menschlichen

Die Netzeitung war einmal die ­erste deutsche Tageszeitung, die ausschließlich im Internet erschien. Da sich der wirtschaftliche ­Erfolg nicht einstellte, wurden nach mehreren Besitzerwechseln erst alle freien Mitarbeiter entlassen (Ende 2008), dann musste die ganze Redaktion gehen (Ende 2009).

Doch es gibt ein Leben nach dem Tod: Seit dem 4. Januar 2010 macht die Netzeitung als „vollautomatisiertes Nachrichtenportal“ weiter. Heißt das, wir erhalten jetzt Maschinennachrichten? Nein, denn „Vollautomatisierung“ ist natürlich eine Übertreibung. Die ­Netzeitung übernimmt die Nachrichten, ihre Reihenfolge, ihre Rubriken ­automatisch von nachrichten.de.

Nachrichten.de ist ein automatischer Zugriff auf ausgewählte Zeitungen, die online repräsentiert sind, und andere Nachrichtenquellen. Die Automatik ­besteht darin, dass die einzelnen ­Nachrichten-Artikel in der Reihenfolge ihres zeitlichen Auftauchens im Netz aufgegriffen und angeordnet werden. Nun stecken hinter den Zeitungen Menschen, wir lesen also letztlich doch nichts anderes, als was irgendein Redakteur der Zeit oder des Spiegel oder wessen auch immer geschrieben hat. Und auch die Auswahl der Zeitungen haben Menschen besorgt.

Und nicht nur an der Quelle sitzen Menschen, sondern auch der Output der Netzeitung ist von solchen offensichtlich immer noch mitbestimmt, pflegen sich doch die Artikel-Überschriften von denen in nachrichten.de zu unterscheiden, nur die Artikel-Texte selber sind identisch. „Togos Spieler wollen nun doch zu Afrika Cup antreten“, heißt es bei nachrichten.de, „Togo-Trainer stellt Zukunft des Africa Cup infrage“ bei der Netzeitung.

Das ist immerhin eine gewaltige Akzentverschiebung. An dieser Stelle drängt sich sogar die Frage auf, ob der Unterschied von der neuen zur alten Netzeitung überhaupt so groß ist, denn auch dort wurden häufig nur ­Texte aus anderen Quellen übernommen, auch dort bestand das „Eigene“ dann nur in der Überschrift. Das lässt sich verallgemeinern, und ich bin als Humanist erleichtert: Wenn ich die ausgesucht bösartige Titelzeile "Althaus fährt wieder Ski" sehe, dann weiß ich, das kann sich keine Maschine ausgedacht haben, sondern nur ein Mensch, ein Bild-Redakteur!

Das Interessante sind aber doch eher die Nachrichtentexte unter den Überschriften. Wir nehmen eine Web­site, die aus hundert heterogenen ­Quellen montiert ist, als Sinn-Einheit wahr: Warum funktioniert das? Die Antwort fällt leicht: Weil überall ­Informationen stehen und solche formal einen recht einheitlichen Charakter haben. Die Kehrseite davon ist aber, dass die Montage nichts weiter als ­Informationen weitergibt, während man in der Quelle, selbst wenn es die Bild-Zeitung ist, immer auch einen Kommentar und andere Formen des urteilenden Schreibens findet. Da nun der typische User das ganze Internet in erster Linie, und nicht selten ausschließlich, als Sammlung von Informationen, von „Fakten“ ansieht, hat er den Kommentar der Bild-Zeitung oder auch der FAZ online ohnehin gar nicht gelesen. Warum ihm dann nicht von vornherein nur den Informations-Verschnitt anbieten?

Man sieht daran, dass es den klassischen Printmedien gar nichts nützt, online zu gehen, um wirtschaftlich zu überleben, denn was sie dort noch zusätzlich verlieren, ist ihre Identität und damit erst wirklich ihre Existenz. Was sollen sie tun? Vielleicht die Informationsideologie selber online angreifen, laut sagen, dass die Urteilskraft bedroht ist, und zugunsten dieser bedrohten Art den ökologischen Kampf aufnehmen.


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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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