Heute beginnt in Griechenland ein Generalstreik. Die europäische Schuldenkrise hat sich jetzt so verschärft, dass es keinen Ausgang mehr geben kann, der nicht schwere politische Krisen und Verwerfungen erwarten ließe. Sichtbar wird, wie die führenden EU-Staaten nach einem Plan B greifen, der die Sozialisierung der Verluste vorantreibt, genannt "Erhöhung der Eigenkapitalquote der Banken". Wie unsozial diese Politik funktioniert, ist gar kein Geheimnis, das Wesentliche ist auch etwa in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung zu lesen. Erst hat man unter dem Vorwand einer "Griechenlandhilfe" das Land zu befähigen versucht, den deutschen Banken Schulden zurückzuzahlen. Auch den französischen Banken und noch anderen, aber bleiben wir bei Deutschland. Für den dafür aufgespannten "Rettungsschirm" stand der deutsche Steuerzahler gerade. Jetzt hat sich gezeigt, Griechenland bleibt trotzdem zahlungsunfähig. Dann, sagt die Politik, muss die Geldübergabe des Steuerzahlers an die Banken eben nicht auf dem Umweg über Griechenland, sondern ganz direkt erfolgen. Das ist Plan B, ganz offiziell: Die Erhöhung der Eigenkapitalquote wird nötig, weil den Banken Verlust wegen griechischer Schulden, die nicht zurückgezahlt werden, bevorstehe und sie mit ihrem jetzigen Eigenkapital zu schwach seien, ihn wegzustecken.
Die führenden EU-Regierungen wollen nicht nur den Banken helfen, sondern auch dem schwer bedrohten Euro und der je eigenen Kreditwürdigkeit. Alles indes, was sie jetzt noch anstellen können, wird die Rating-Agenturen zur Herabstufung der Kreditwürdigkeit veranlassen. Die Bankenrettung von 2008 lässt sich nicht auf neuer Stufenleiter wiederholen: Jeder weiß, kein noch so reicher Staat kann immer mehr Geld (des Steuerzahlers weiter-) geben. Die Agenturen werden also sagen, der Staat schwächt sich zu sehr, wird ihm daher schlechtere Noten geben, also die Kredite verteuern, die er aufnehmen kann - was Griechenland in den Strudel riss, fängt an, die führenden EU-Staaten zu bedrohen. Die Agenturen werden auch sagen, Banken, denen geholfen werden muss, sind schwächer als wir dachten, also stufen wir sie gleichfalls herunter. Nach der immanenten Logik des Marktsystems haben sie sogar recht, das Problem ist nur: J e t z t haben sie recht, jetzt, wo es ihrer nicht bedürfte für solche "Einsichten" in die Krisenrealität, zu denen jeder fähig wäre. Sie hatten aber nicht recht, als sie den vergifteten Finanzprodukten Bestnoten gaben, die vor ein paar Jahren die Krise auslösten.
Dass ein Staat seine Banken zur Erhöhung der Eigenkapitalquote zwingt, kann sogar ein sinnvoller Schritt sein, war es 2008 in den USA. Dort zeigte sich im Nachhinein, die Banken hätten auch dann gewonnen, wenn sie es von sich aus getan hätten. Erhöhung der Eigenkapitalquote heißt, sie geben mehr Aktien aus; werden diese gekauft, gibt es entsprechend mehr Miteigentümer und eben den Verkaufserlös, der das Bankkapital vergrößert. Zwingt der Staat dazu, dann heißt das, e r veranlasst die Emission der Aktien, e r wird Miteigentümer. Das ist in den USA für die Steuerzahler nicht schlecht ausgegangen. Denn die Banken waren so wenig willens, sich vom Staat dreinreden zu lassen, dass sie alles daran setzten, ihm die Aktien wieder abzukaufen. Dazu mussten sie Privatanleger finden, die bereit waren, an Staates Stelle zu treten, und es zeigte sich, dass das gar nicht schwer war. In kurzer Zeit hatten sie den Staat wieder draußen. Der aber hatte sogar Gewinn erzielt. Warum der Umweg, warum haben die Banken nicht von sich aus die Eigenkapitalquote erhöht? Nun, je niedriger sie ist, desto höher die Renditequote.
Das meiste lässt sich auf die europäische Lage 2011 nicht übertragen. Wie gesagt, hiesige Banken, denen eine zusätzliche Aktienemission aufgezwungen wird, gelten bereits als kriseninfiziert. Private Anleger hätten viel weniger Grund, sich zu engagieren. Das klingt mit, wenn die Deutsche Bank sich gegen die bevorstehende staatliche Zwangsmaßnahme wehrt: Jetzt Aktien ausgeben, sagt sie, heiße sich mit niedrigen Aktienkursen zufrieden geben.
Griechenland als Ausgangspunkt der ganzen Teufelsspirale hat die Frage aufgeworfen, ob es nicht besser wäre, die Eurozone zur kleinen Kerneurozone zurückzunehmen. Denn wer weiß, wie es in Italien und Spanien weitergeht. Wenn es dort kracht, wird dann die Eigenkapitalquote der Banken noch weiter erhöht? Das alles gefährdet den Euro immer mehr, sollte man ihn also nicht zur Währung lediglich der wirtschaftsstärksten EU-Staaten machen? Eine Mehrheit weltweiter Privatanleger glaubt heute bereits, er sei eine zusammenbrechende Währung. Doch deutsche Politiker kennen Gründe, die Eurozone nicht wesentlich zu verkleinern. Denn eine Verkleinerung würde den Rest-Euro aufwerten, daher die Waren der Exportindustrie verteuern.
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Wenn so viel aus den Fugen gerät, kann eine Einzelheit fast unwichtig scheinen, die in Wahrheit den historischen Stellenwert der Krise erhellt. Es wird debattiert, dass Griechenland vielleicht einen europäischen Schuldenkommissar mit Hoheitsrechten benötige. Ein Blick in die Geschichtsbücher zeigt, genau das stand am Anfang des europäischen Imperialismus nach der schweren Weltwirtschaftskrise 1873 ff., der die Zeit bis zum Ersten Weltkrieg überbrückte und im Grunde sein Vorspiel war. Ägypten konnte seine Schulden nicht mehr begleichen. Also sandte England einen Schuldenkommissar, der die Macht im Land übernahm. Wie es weiterging, ist bekannt. Andere europäische Staaten wollten nun auch bedeutende Überseegebiete beherrschen. Sie kämpften ja alle mit der Wirtschaftskrise, und jeder Staat fing an zu fürchten, wenn er nicht Englands Weg nachahmte, würde er Ägyptens Weg nachahmen müssen. Ein Wettlauf setzte ein, in wenigen Jahren war die ganze Welt aufgeteilt. Und Deutschland fand, es habe nicht genug abbekommen. Man muss sich klar machen, dass diese Entwicklung für die Zeitgenossen ganz überraschend kam. Nicht nur Bismarck hatte Kolonien abgelehnt, sondern in ganz Europa und gerade auch in England war man überzeugt gewesen, dass der Erwerb von Kolonien einer vergangenen Epoche angehöre und auch viel zu teuer sei. Aber nun wäre es teuer gewesen, in Ägypten nicht einzugreifen.
Es geht nicht um einen unmittelbaren Vergleich, der völlig absurd wäre. Aber die Erinnerung tritt mit einer gewisser Zwangsläufigkeit ein, weil sie zur Sache gehört. So lese ich gestern in der FAZ, "ein 'staatliches Inkasso' durch militärische Gewalt seitens der Gläubiger scheidet aus, wie Lewinsky", Staatsrechtler der Humboldt-Uni, "zur Kanonenboot-Politik früherer Zeiten anmerkt". Die Erinnerung macht doch wenigstens deutlich, dass die Krise, in die wir eingetreten sind, die internationalen Beziehungen verändern wird.
Das folgt fast logisch aus ihr, weil sie jeden Staat auf sich selbst zurückwirft und ihn sich sagen lässt, das Hemd stehe ihm näher als der Rock. Das hat nach 1873 ebenso wie nach 1929 zum weltweiten Protektionismus geführt. Als die Staaten nach 1873 ihre nun isolierte Kraft stärken wollten, führten viele immerhin auch die Sozialversicherungssysteme ein. Die typische Konsequenz nach 1929 war aber die Abschaffung der Demokratie. Man muss fragen, was heute daraus folgt, wenn Staaten egoistischer werden. Wir leben in einer ganz anderen Zeit, in der sich regionale Machtzentren herausgebildet haben und weiter herausbilden, die USA, die EU, Russland, China, Indien, Brasilien. Dass die EU als eins dieser Zentren zerfällt, ist kaum zu erwarten. Ob sie auch nur ihre Struktur verändert, ist nicht sicher. Aber ihr Verhältnis zu anderen regionalen Zentren wird sich ändern, ob sie will oder nicht. Ein möglicher Ausgang ist, dass sie die angebotene chinesische Hilfe in Anspruch nimmt, dann wäre auch Chinas politisches Gewicht in Europa erhöht. Es gehört auch zum Thema, dass die Türkei inzwischen weniger auf EU-Mitgliedschaft erpicht scheint als darauf, sich selbst eine andere EU oder vielmehr Orient-Union zu zimmern, aus den Staaten der Arabellion unter ihrer Führung.
Es scheint heute wahrscheinlicher, dass die EU sich verkleinert, weil ein Staat wie Griechenland seiner sozialen Unruhen anders als durch den Austritt nicht mehr Herr wird, als dass sie sich vergrößert. Aber was kann sie tun, um in sich wandelnden internationalen Beziehungen die Selbstveränderung selbst zu gestalten und nicht nur zu erleben?
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Griechenland ist nicht kolonisiert. Es kann aus der Euro-Zone oder sogar aus der EU austreten, wenn es will. Es könnte sich für insolvent erklären, was mit andern Worten hieße, es würde seine Schulden ganz einfach nicht bezahlen - nach dem Vorbild Argentiniens. Aber wäre ihm damit gedient? Das ist durchaus möglich. Es gibt eine Diskussion darüber. Auf die neue eigene Währung würde es zunächst keine internationalen Kredite erhalten. Aber da die Währung niedrig bewertet würde, könnte die Exportindustrie billig verkaufen. Für eine Übergangszeit, bis das Land seinen Platz im Weltmarkt neu konsolidiert hätte, verteuerte sich das Leben der Bevölkerung, doch es würde sich nicht auf die erbärmliche und destruktive Art verteuern wie heute: nicht durch von der EU aufgezwungene Lohn- und Sozialleistungskürzungen, die nur der Schuldenrückzahlung dienen, die eigene Wirtschaft dabei aber strangulieren, deshalb wiederum die Rückzahlung verteuern, weil Ratingagenturen schlechtere Noten geben, und so immer weiter - man mag sich den absurden Unfug, der aber die Realität ist, gar nicht vorerzählen!
Im Zweifelsfall wäre Griechenland der Austritt wohl zu raten. Und anderen Staaten, wenn ihnen dieselbe wirtschaftliche Strangulierung droht, dann auch - Italien, Spanien, Portugal, Irland. Der ganzen europäischen "Peripherie". Aber eine solche Entwicklung ist überhaupt nicht wünschenswert. Es wäre fatal, würde die europäische Einigung rückgängig gemacht. Solche Krisen sollten vielmehr der Anstoß sein, die Einigung voranzutreiben. Durch die derzeitige Methode der EU, Ländern wie Griechenland zu "helfen", werden diese nur desintegriert. Was würde sie integrieren? Da gäbe es Hausaufgaben nicht so sehr für Griechenland und die Peripherie als für die Zentralländer der EU, vor allem für Deutschland. Mit der Recht hat Lee Kuan Yew, früherer singalesischer Ministerpräsident und Vater des jetzigen, einer der führenden Staatsmänner Asiens, gesagt, man könne nicht von den Griechen erwarten, dass sie auf dieselbe Weise "voranmarschieren"- leben und arbeiten - wie die Deutschen (FAZ vom 16.9.2011). Integration kann nicht Angleichung an Deutschland heißen. Diese Angleichung wird aber unausgesprochen verlangt, wenn immer wieder behauptet wird, die Griechen seien "faul" und verdienten es deshalb, dass man ihnen die Löhne kürzt. Nein, sie haben eine andere Kultur, sonst würde ja der Urlaub bei ihnen keinen Spaß machen, und ihre Wirtschaft ist viel schwächer.
Und dieselbe deutsche Politik, der nichts anderes einfällt, als dass die Peripherieländer sich a n g l e i c h e n müssten, macht ihnen die Angleichung zugleich unmöglich, weil die Stärke der eigenen Exportindustrie ihr höchstes Ziel ist und sie jedes internationale Wirtschafts u n g l e i c h g e w i c h t dafür in Kauf nimmt. Und übrigens, kann eigentlich wirklich jemand ernsthaft glauben, all diese Länder hätten "über ihre Kosten gelebt" und das sei der ärgerliche Grund, weshalb man ihnen jetzt "helfen" müsse? Und zufällig sei das bei allen zum selben Zeitpunkt offenbar geworden? Heilige Einfalt! Es ist doch wohl eher so, dass sie von der weltweiten Krise erfasst wurden und als Länder mit schwächerer Wirtschaft mehr Mühe haben, die Krisenfolgen in den Griff bekommen.
Was würde die Peripherie integrieren? Wir haben über Plan B gesprochen, er führt nicht aus der Krise heraus, sprechen wir über Plan C. Die Frage ist auf der Finanzebene gar nicht zu beantworten, sondern nur auf der Ebene der Produktion, der internationalen Arbeitsteilung. Wenn diese nicht einmal innerhalb der EU a u s g e h a n d e l t werden kann, statt dass deutsche und andere Produktionsgiganten der Peripherie eine aufzwingen durch möglichst deregulierten Konkurrenzkampf, dann fragt man sich wirklich, wozu es eine EU überhaupt geben soll. Sie ist doch dann als "Union" eine Lüge. Auf Basis einer ausgehandelten Arbeitsteilung könnte die EU selber auf die Idee kommen, die Eurozone einzuschränken, nun aber nicht so, dass die wirtschaftlich schwächeren Länder einfach rausfallen, sondern man würde sich für sie und mit ihnen auf eine zweite und vielleicht noch dritte EU-Währung einigen. Der Weg der Aushandlung taucht übrigens heute von selbst auf. Die griechischen Kapitalverbände haben ein hoch einleuchtendes Umbaukonzept für die Wirtschaft ihres Landes vorgestellt, das mit auswärtigem Kredit ohne weiteres realisiert werden könnte. Die deutsche Solarindustrie meldet an, welche Interessen sie in Griechenland hätte. Doch wie verträgt sich dieser Weg mit der Schuldenspirale? Man muss sich schon entscheiden: ob Kredite gezahlt werden sollen, damit Banken Schulden zurückerhalten, oder für den Wirtschaftsumbau.
Besser, als wenn Griechenland sich für insolvent erklärt, wäre es, dass die Macht der Gläubiger gebrochen würde. Daran denken EU-Politiker nicht im Traum, ich will aber trotzdem erwägen, wie so etwas aussehen könnte. Damit man wenigstens nicht glaubt, wer vor der Ausweglosigkeit der Schuldenspirale verzweifle, verzweifle vor einem Naturgesetz, an dem Götter nicht rütteln könnten und Menschen schon gar nicht. Die Gläubiger - das sind nicht die Banken, oder sind es doch nur zum Teil. Banken sind in der Tat "systemrelevant", auch eine nachkapitalistische Gesellschaft würde sie brauchen. Mit der Frage, ob man lieber Griechenland um der Banken willen oder die Banken um Griechenlands willen vor die Hunde gehen lässt, hat man den Teufelskreis noch gar nicht verlassen. Nein, die Gläubiger, das sind auch die großen Vermögenden, die in den Banken große Einlagen haben. Während die Staaten, starke wie schwache, als Organe der Gesellschaften unter riesigen Schuldenbergen stöhnen, bilden eben diese Schulden einen Teil, einen gigantischen Teil letztendlich von Privatvermögen. Die Banken vermitteln das nur. Bei welchen Privaten die Gesellschaften ihre riesigen Schulden haben, ist aber gar nicht bekannt.
Während die Gesellschaften das ausgeliehene und geschuldete Geld nützlich und notwendig ausgeben - ob das immer im Einzelnen geschieht, ist zweifelhaft, nicht aber das Prinzip -, hat es in der Hand des Gläubigers überhaupt keinen Sinn, keinen anderen jedenfalls als den, dass es sich mit Zinsen verleihen oder auf andere Weise ohne eigenes Verdienst vervielfältigen lässt. Wenn sich nun jeder dieser Gläubiger sagen würde, dass ein einzelner Mensch wahrscheinlich nicht mehr als 30 Millionen Euro braucht, um einigermaßen komfortabel zu leben, und würde das, was er darüber hinaus hat, ganz einfach der Gesellschaft schenken, es gäbe kein Staatsschuldenproblem mehr. Deshalb würde es doch naheliegen, diese Leute zu einer Art Geldparlament zusammenzurufen, wo sie mal auftauchen müssten und man mit ihnen vernünftig darüber redete, öffentlich, was es für sinnvolle Geldverwendungsarten gibt. Die Voraussetzung wäre, dass die Privatvermögen erst einmal kartographiert würden. Wer hat wo angelegt, in welchen Banken oder vielleicht Sachwerten, auch Spekulationsobjekten? Der Sinn oder Unsinn der Anlage würde immer sofort ins Auge springen. Spekulation mit Nahrungsmitteln ist zum Beispiel nicht sinnvoll, obgleich eine "sichere Anlage". Im Geldparlament würde man fragen, warum machen Sie das, Herr XY, es ist doch nicht sinnvoll? Warum können Sie nicht auf Gelder verzichten, die auf Umwegen nach Griechenland gelangt sind?
Was kann man mehr tun, als Herrn XY ein Parlament anzubieten? Auf historische lange Sicht ist es seine letzte Chance, mit der Ehre davonzukommen.
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In der Reihe "Tagebuch der Krise" schon erschienen:
Stuttgarter Impressionen (2.11.2010)
Protest ohne Partei (9.11.2010)
Atempause in Deutschland (6.1.2011)
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