Protest ohne Partei (Tagebuch der Krise)

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

1

Protestbewegungen haben gerade Hochkonjunktur - Stuttgart, Gorleben -, und ich behaupte, dass ihnen keine Partei zur Seite steht, obwohl dies nützlich und nötig wäre um der Sache willen, für die sie kämpfen.

Das ist eine zugespitzte Behauptung, insofern auch eine Übertreibung. Man hat doch gesehen, wie sich Parteiprominenz in Gorleben drängelte, Grüne und Gysi (schon) einmal fast Arm in Arm. Aber wenn wir fragen, ob die damit angesprochenen Parteien dem Protest " A u s d r u c k " geben oder ihn vielmehr auf ihre Kanäle zu lenken versuchen, wie sieht es dann aus? Auch diese Frage, muss ich gleich einräumen, ist eine Übertreibung. Denn sie stellt sich nicht so krass als Entweder-Oder. Man muss sicher sowohl den Grünen als auch der Linken attestieren, dass sie sich zwar im Eigeninteresse unter die Bewegten mischen, sie aber im Ernst auch zu vertreten glauben und, mehr noch, es t e i l w e i s e tatsächlich tun. Man kann diesen Teil angeben, in dem Bewegungen und Oppositionsparteien übereinstimmen. Es sind die Forderungen des Protests. Sie werden von den genannten Parteien eins zu eins mitvertreten. Aber das ist weniger, als zu wünschen, ja als zu erwarten wäre.

Es heißt im Grunde nicht mehr, als dass die Bewegungen um Mitglieder dieser Parteien noch vermehrt werden. Ihnen aber a l s Parteien " A u s d r u c k " zu geben, würde bedeuten, die Forderungen des Protests auf diejenige Diskurs-Ebene zu heben und in sie zu übersetzen, die Parteien eigen ist. Sie so zu "verallgemeinern". Eben das ist ja der Mechanismus, der faktisch vielmehr zur K a n a l i s i e r u n n g des Protests führt: Das Allgemeine einer Partei ist ihr Parteiprogramm, in dieses hinein verallgemeinert sie, was ihr über den Weg läuft. Anders gesagt, die Partei hat eine bestimmte allgemeine Fragestellung und wird unterstellen, die Protestbewegung habe sie auch. Und sie mag ja recht haben! Und selbst wenn sie nicht recht hat, tut sie meist nur, was sie kann, und hat keinen bösen Willen. Aber jedenfalls versteht es sich nicht von selbst, dass die konkreten Forderungen, um die es in Stuttgart und Gorleben geht, dasselbe Allgemeine implizieren wie die Parteiprogramme entweder der Grünen oder der Linken oder von beiden zusammen.

Man kann das prüfen. Sollte es verneint werden müssen, wäre zu sagen: Die Parteien spalten und instrumentalisieren faktisch den Protest, oder umgekehrt: Der Protest ist ohne Partei.

2

In Stuttgart wird der Volksentscheid gefordert. Das ist jetzt so virulent geworden, dass alle Parteien darüber diskutieren, ob es rechtlich möglich und sogar sinnvoll wäre, der Forderung nachzugeben. Doch das Allgemeine, das in ihr impliziert ist, wird von keiner Partei aufgegriffen. Man braucht nur Stuttgart und Gorleben nebeneinander zu sehen, dann sieht man, dass b e i d e Ereignisse die Frage des Volksentscheids aufwerfen. Was Gorleben angeht, ist seit Jahrzehnten klar, eine Mehrheit der Bevölkerung will keinen Atomstrom. Wie kann es geschehen, dass uns trotzdem eine Verlängerung der AKW-Laufzeiten aufgezwungen wird? Dass einfach eine neue Regierung den Atomausstieg, den die alte schon ausgehandelt hatte, wieder in Frage stellen darf? Ist das nicht der krasseste Stalinismus? Bleibt da nicht die Demokratie auf der Strecke? Es geht schließlich nicht nur darum, dass irgendwelchen Eigentümern, hier denjenigen der AKWs, ihr heiliges Eigentumsrecht garantiert werden müsse. Sondern darum, dass sie Verkäufer sind, Verkäufer von Atomstrom. Dazu hätten sie nur ein Recht, wenn die Käufer nicht zwangsweise kaufen müssten. Würde dieser Zwang nicht bestehen, blieben sie auf ihrer Ware sitzen, wären bald bankrott und hätten ihr Eigentum verwirkt. So aber müssen wir dem Bankrott vorbeugen, indem wir in einem angeblich freien Markt ihre Sklaven sind. Gäbe es einen Weg, uns zu befreien, wir würden ja gar nicht ihren Bankrott wollen. Sondern dass sie konvertieren und mit ihrem Eigentum etwas Nützliches tun. Was nützlich ist, hätten freilich wir zu bestimmen, denn "der Kunde ist König".

In Stuttgart wird eine freie Wahl gefordert, obwohl es reguläre Verfahren gegeben hat, in denen das Projekt "S 21" kunstvoll beschlossen worden ist. Trotzdem traut sich heute niemand mehr, der Forderung die Legitimation zu bestreiten. Man kann sie allenfalls zu unterlaufen versuchen, wie es jetzt Ministerpräsident Mappus tut, indem er eine Modifikation künftiger Verfahren in Aussicht stellt. Ein Mediator soll von vornherein mitwirken, sagt er. Aber natürlich ist der Volksentscheid die bessere, demokratischere Lösung. Um wie viel mehr wäre sie es erst in der Frage des Atomstroms. Denn die jetzt von der Merkel-Regierung inszenierte Laufzeitverlängerung ist nie durch irgendein amtliches Verfahren gegangen. Im Gegenteil sind Verfahren, die unbedingt hätten eingehalten werden müssen, bewusst missachtet worden. Der Bundesrat wurde ausgegrenzt. Das geschah pur diktatorisch, man kann es nicht anders nennen. Aber in der Bewegung ist mehr gewollt, als dass nur der Bundesrat nicht ausgegrenzt wird.

Ein Volksentscheid auch über das Schicksal der Atomenergie wäre die wirklich demokratische Lösung. In der Schweiz ist das möglich, warum nicht auch in Deutschland? Die Zürcher etwa haben Ende 2008 mit einer Mehrheit von 76 Prozent entschieden, langfristig für ihre Energieversorgung keinen Atomstrom mehr zu beziehen. In Nidwalden in der Zentralschweiz haben die Stimmbürger ein Endlager in ihrem Kanton verworfen. Auch landesweite Volksentscheide in diesen Fragen wären in der Schweiz möglich. Was so entschieden wird, gilt dann auch. Wer gegen die Entscheidung verstieße, bekäme es mit der Polizei zu tun. Warum nicht auch bei uns?

Es ist ja nicht so, als sei unsere Regierung, von sachlich verwirrten Wähler-Erwägungen unbehelligt, im allgemeinen aber doch durch sie in Amt und Würden gebracht, nun umso freier, das ihnen selbst vernünftig Scheinende zu verwirklichen. Nein, sondern statt der Wähler gewinnt die winzige Minderheit der Industriekapitäne, die eigentlich nur Dienstleister ihrer Kunden sein dürften, auf die Regierung unproportionalen Einfluss. Der Kunden, das heißt der Wähler; nicht sie haben den Einfluss, sondern jene, die angeblich nur ihre "Nachfrage" beantworten. In Wahrheit antworten die Kapitäne auf Fragen, die sie sich selbst stellen. So jetzt in Stuttgart: Prominente Manager und Unternehmer tun sich zusammen, um ihre Unterstützung von S 21 auf einer Pressekonferenz zu verkünden. Der Vorstandschef von BASF hat die Kampagne organisiert. Der Vorstandschef von Daimler appelliert an die Politiker, die "richtigen" Entscheidungen umzusetzen statt der "bequemen". Was mögen diese Worte wohl für einen Sinn haben? Wenn nicht den, dass es "bequem" wäre, dem Wählerwillen zu folgen? "Richtig" aber, sich antidemokratisch zu verhalten?

Der Vorstandschef von ENBW setzt noch einen drauf: "Wenn im Nachgang zu den rechtmäßigen Entscheidungen Stuttgart 21 jetzt in Frage gestellt wird", sagt er, "strahlt dies auch negativ auf andere Infrastrukturmaßnahmen in anderen Regionen und anderen Bereichen ab." Er fürchtet nämlich, dass dann auch der Ausbau von Stromnetzen und der Neubau von Kraftwerken in "Gefahr" geraten könnte. Das ist es eben: Zu fürchten haben er und seinesgleichen, dass über die Schlüsselfragen der Produktion demokratisch entschieden würde. Dann erst wäre der Kunde König. Und nicht, wenn er im Tunnelbahnhof steht und "wählt", ob er nach Norden oder Süden fährt. Oder wenn er "entscheidet", den Atomstrom statt von ENBW von Vattenfall zu beziehen. Es gibt noch mehr solche Schlüsselfragen, zum Beispiel wie viel Autoprivatverkehr es im Verhältnis zu wie viel öffentlichem Personennahverkehr geben soll. Wer das nicht mitwählen kann, weil eine Wahl gar nicht vorgesehen ist, kann nicht deshalb schon "frei" genannt werden, weil er sich für Opel, gegen VW entscheiden darf.

3

Kurzum, das Allgemeine, das in den laufenden Protesten angelegt ist, ist die Möglichkeit, a l l g e m e i n e ö k o n o m i s c h e W a h l e n zu fordern, betreffend die Schlüsselfragen der Produktion. Die Diagnose wird dadurch noch unterstrichen, dass sogar die Lobbypolitik der Industriekapitäne zunehmend, unter dem Druck des Protests, so auszusehen beginnt, als verträte sie ein vernünftig ausgearbeitetes Wahlprogramm. Diesen Charakter hat jedenfalls eine Einlassung des EON-Chefs Johannes Teyssen, den die FAZ am 22. Oktober auf einer ganzen Zeitungsseite abdruckte, unter dem Titel "Den Bürgern die Wahrheit sagen".

Hier liegt ein regelrechtes volkswirtschaftliches Rahmenprogramm vor, und man wird einräumen, dass Herr Teyssen tatsächlich die Wahrheit sagt - seine Wahrheit. Er versucht auch das Ökologische in seine Perspektive einzubeziehen. "Ich selbst habe insbesondere zum Erdgas eine dezidiert abweichende Sicht", sagt er zum Beispiel: "Dieser ausreichend verfügbare und relativ klimafreundliche fossile Brennstoff kann und sollte auch künftig im Strom- und Wärmesektor eingesetzt werden." Und er nennt seine Gründe. Seine Skizze hat eine vollkommen durchsichtige rationale Struktur. Trotzdem wird man ihr nicht automatisch zustimmen, nur weil sie rational ist. Man fragt sich vielmehr, warum nicht auch alternative Programme dieser Art formuliert werden, warum man sie nicht gegenüberstellt und über sie a b s t i m m t . Wie lautet Teyssens Kernsatz? "Ein 40-Jahres-Plan ist sinnvoll, vielleicht notwendig." Er fordert die volkswirtschaftliche ökonomische Planung! Obwohl er gar kein Kommunist ist!

So viel ist klar: Wenn es einen Plan geben muss, ist es am besten, mehrere realisierbare Pläne auszuarbeiten und zur Wahl zu stellen, durchdachte Pläne, wie von Teyssen vorexerziert. Auch wenn er selbst nur an die Regierung appelliert, sonst hieße es nicht "Den Bürgern die Wahrheit sagen", sondern "Die Bürger die Wahrheit sagen lassen".

Die in der realen Auseinandersetzung sich abzeichnende Möglichkeit, allgemeine ökonomische Wahlen zu fordern, wird von keiner Partei erkannt und aufgegriffen, keine will sie sich zu eigen machen, keine erhebt sie zum Parteiprogramm. Dabei kann man sich vorstellen, wie sehr das den Protest beflügeln würde. Er wäre verallgemeinert, nicht mehr flüchtig, würde über den Tag hinaus wirken. Der Protest bekäme ein Ziel von der Art, die langen Atem verschafft. Und zwar eben dadurch, dass die verallgemeinerte Losung ihm selbst abgelesen würde. Ist das nicht einmal so gesagt worden: Man habe der Bewegung keine Ziele vorzuschreiben, sondern zu übersetzen, was sie selbst wolle? Das geschieht eben nicht. Die Grünen bleiben auf die atomistische Wahl des ohnmächtigen einzelnen Marktteilnehmers fixiert, dem nur der regelsetzende Staat beispringen soll, jener Staat, der sich immer wieder als Lobbyisten-Beute erweist. Und die Linke, statt über Schlüsselfragen abstimmen zu lassen, will lieber Schlüsselindustrien verstaatlichen. Am selben Wochenende, als in Gorleben der heftigste Protest seit langem auflebte, wiederholte Oskar Lafontaine diese alte Losung, die in realsozialistischer wie sozialdemokratischer Version schon so oft gescheitert ist.

Beide unterstützen die ökonomische Wahl mal ausnahmsweise – jetzt in Stuttgart -, verallgemeinern sie aber nicht, erheben nicht die Verallgemeinerung zum Parteiprogramm. Deshalb sage ich: Dem Protest steht keine Partei zur Seite. Und das wird ihm natürlich schaden. Denn Parteien sind nun einmal der Vorhof der Macht. Eine Bewegung, die nicht einmal diesen Vorhof erreicht, hat gar keine Chance.

*

In der Reihe "Tagebuch der Krise" schon erschienen:
Stuttgarter Impressionen (2.11.2010)

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden