Ein Jahr ist es her, dass zwei Initiativen sich zur "Wahlalternative Arbeit und Soziale Gerechtigkeit" zusammenschlossen, die damit den Weg zur Parteigründung antrat. Auf der Basis einer Urabstimmung fand die formelle Parteigründung am 22. Januar 2005 statt, vom 6. bis 8. Mai tagt in Dortmund der Gründungskongress und schon am 22. Mai steht die Wahlalternative, die bisher etwa 4.200 Mitglieder hat, in Nordrhein-Westfalen erstmals zur Wahl. Ob sie eine reelle Chance hat, wird sich zeigen, wenn in Kürze die ersten Wahlprognosen veröffentlicht werden. Eine Zeit lang war die "neue Linkspartei", wie sie in den Medien genannt wird, fast in Vergessenheit geraten, weil die SPD in der Wählergunst aufzuholen schien. Dies hat sich jedoch als Trugschluss herausgestellt. Das Spiel ist wieder offen. Ist die Partei darauf gut vorbereitet?
Die Initiatoren der Parteigründung um die Gewerkschafter Thomas Ernst und Thomas Händel hatten ein klares Konzept. Eine Sozialstaatspartei gegen den Neoliberalismus sollte es werden. Programmbasis war der Keynesianismus, wie ihn die Bremer Memorandum-Gruppe vertritt. Aktuelle Forderungen entsprachen denen des DGB: Stärkere Besteuerung der Reichen, Schutz der Arbeitnehmerrechte, Widerstand gegen die Hartz-Gesetze. Man wollte dieses Programm nicht der PDS überlassen, die in Westdeutschland keine Wahlerfolge erringen kann und der man die Einbindung in zwei Landesregierungen vorwarf. Die Wahlalternative will angeblich strikte Opposition sein. Erste Umfragen ließen auf ein großes Wählerpotenzial von bis zu 30 Prozent schließen. Um es nicht zu verscherzen, waren die Initiatoren darauf bedacht, ihr Konzept möglichst unverändert zum Parteiprogramm zu machen - eine triviale Tatsache, in der aber doch die Crux und das Paradox aller Parteigründungen steckt.
Denn Parteiprogramme können nicht von Initiatorengruppen festgelegt werden. Es muss vielmehr ordentliche Delegiertenversammlungen geben, die sie beschließen. In ihnen finden die Initiatoren vielleicht keine Mehrheit. Das heißt, die Programmvorstellung von Initiatoren setzt sich zwei Anforderungen aus, die verschieden sind und gegeneinander wirken können: Sie muss einen gesellschaftlichen Widerhall versprechen, in Deutschland mindestens fünf Prozent der Wähler wegen der parlamentarischen Sperrklausel, und sie muss ein paar Tausend Aktivisten überzeugen, in deren Hände die tatsächliche Parteigründung unvermeidlich gelangt. Nun wollten sich die Initiatoren der Wahlalternative aufs bloße Überzeugen nicht verlassen; sie versuchten die Partei von oben nach unten zu gründen. In den sich bildenden Landesverbänden traten Kommissare der Zentrale in Erscheinung, und weil die Programmvorstellung gegen die Politik der Bundesregierung gerichtet war, sollte es keine Beteiligung an Landtagswahlen vor 2006 geben.
Diese Taktik gelang nicht überall. Gerade da, wo es starke Protestszenen gab, die nun zur neuen Partei strömten, in Nordrhein-Westfalen und Berlin, setzte sich die größere Zahl der Szene gegen die Absicht der Initiatoren durch. Die Vorstellung, dass ein Kommissar, sei er auch ein verdienter Gewerkschafter wie Lothar Nätebusch in Berlin, mehr gelten sollte als die Mehrheit, erschien undemokratisch. Die Aktivisten wollten auch nicht den Beginn des Kämpfens auf die lange Bank schieben. Der nordrhein-westfälische Verband setzte die Teilnahme an der Landtagswahl innerparteilich durch; da es die erste Wahlbeteiligung ist, ist klar, dass der Wahlerfolg oder -misserfolg die weiteren Chancen der Partei wesentlich mitbestimmt. Der Konflikt der Berliner Aktivisten drehte sich um denselben Punkt: Ihre Teilnahme an einem Volksbegehren gegen den rot-roten Senat zielte auf baldige Berliner Neuwahlen. Nätebusch hatte den Auftrag, diese "Verzettelung der Kräfte" zu verhindern; die Streitfrage hat sich inzwischen erledigt, aber im Berliner Verband sind jetzt seine Gegner stärker.
Wo der Protest stark ist, ist im übrigen die Wahrscheinlichkeit groß, dass ein neuer Parteiansatz auf schon vorhandene Organisationen stößt. Auch dieser Aspekt hat sich nicht zur Zufriedenheit der Initiatoren entwickelt. Auf der einen Seite ist es zu erwünschten Übertritten höherer SPD-Ränge nicht gekommen, und auch von der Gewerkschaftsführung fühlt man sich im Stich gelassen. Auf der anderen Seite haben sich unerwünschterweise zwei trotzkistische Organisationen in den Parteigründungsprozess eingeschaltet, der "Linksruck" und die "Sozialistische Alternative" (SAV). Entrismus, also der Eintritt in Arbeiterparteien, um sie von innen zu verändern, ist traditionelle trotzkistische Politik. Dabei gab "Linksruck" höchstens deshalb Anlass zum Ärger, weil die Gruppe in Berlin die Politik des Volksbegehrens unterstützen half. Der Fall der SAV, die in Nordrhein-Westfalen einige Kandidaten für die Landtagswahl durchbringen konnte, ist ernster. Denn diese Gruppe kritisiert offen den Parteiansatz der Initiatoren. Sie wendet sich gegen den Keynesianismus und überhaupt gegen halbe Sachen, um unmittelbar auf die Bildung einer revolutionären Arbeiterpartei zu orientieren. Dafür will sie in der Wahlalternative eine Mehrheit erlangen. Sie ist eine zahlenmäßig unbedeutende Gruppe, aber da es nicht mehr so viele "K-Gruppen" wie in den siebziger Jahren gibt, kann sie eine überproportionale Rolle spielen. Bei einer Bundeskonferenz der Wahlalternative im vorigen November stimmte ein Drittel der Delegierten für eine SAV-Kandidatin.
Vor die Herausforderung der SAV gestellt, hat sich die Initiatorengruppe differenziert. Thomas Ernst machte sich zum Sprecher derjenigen, die auf den Ausschluss der SAV-Mitglieder drängten, um das gewollte Erscheinungsbild der Partei zu retten. Die Gruppe um Thomas Händel und Joachim Bischoff verwies dagegen auf die Beschlusslage, nach der ausdrücklich auch Kommunisten als Parteimitglieder willkommen sind, sofern sie sich nur dem Parteiwillen unterordnen. Das tun die SAV-Leute, sie kämpfen eben nur außerdem für einen anderen Parteiwillen. Die Gruppe um Händel setzte sich im wesentlichen durch. Es wird zwar betont, dass man nun jeden SAV-Fall einzeln prüfen wolle, und in Mecklenburg-Vorpommern haben auch tatsächlich zwei Personen die Prüfung nicht bestanden; aber eigentlich ist klar, dass es an der SAV-Frage gar nichts zu prüfen gibt, weil man den Willen dieser Organisation ja kennt.
Die Differenzierung der Initiatorengruppe bedeutet nicht, dass der ursprüngliche Programmansatz nicht mehr von beiden Seiten getragen wird. Die Gruppe um Händel vertraut nur darauf, dass die SAVler sich ohnehin innerparteilich nicht durchsetzen können. Damit hat sie wahrscheinlich recht. Ob die Wahlalternative in Nordrhein-Westfalen einen Achtungserfolg erringt oder nicht, hängt sicher nicht von einzelnen Trotzkisten ab, da die Partei ohnehin kaum Chancen hat, sich mit ihrer eigenen Stimme zu Gehör zu bringen. Sie hatte Ende Januar nicht einmal 50.000 Euro in der Parteikasse. Wenn sie Erfolg haben sollte, dann weil Wähler aus der Presse gerade einmal wissen, dass es eine "neue Linkspartei" gibt. Ob die politische Lage so angespannt ist, dass allein dieses Wissen reicht, um der Partei ein paar Prozentpunkte zu bescheren - auch drei Prozent wären ein Signal der Hoffnung -, das ist die Frage, die am 22. Mai entschieden wird. Tritt der Erfolg aber ein, dann wird sich Oskar Lafontaine an die Parteispitze stellen, und ein paar Trotzkisten hin oder her, gegen diesen Profi könnte an der keynesianischen Parteilinie nicht mehr gerüttelt werden.
Wäre das denn zu bedauern? Die SAV-Aktivisten haben mit ihrer Behauptung, dass der heutige Kapitalismus nicht mehr keynesianisch gezähmt werden kann, zwar möglicherweise recht. Aber deshalb muss es noch lange nicht produktiv sein, in eine keynesianische Organisation zu gehen, um deren Ansatz anzugreifen. Entrismus ist kein gutes Konzept, jedenfalls wenn er von Leuten gepflegt wird, die immerzu das Wahre vom Unwahren unterscheiden. Diese Übung findet auch zwischen den genannten Trotzkisten-Gruppen statt; SAV und Linksruck tauschen polemische offene Briefe aus. Eine Systemalternative entsteht aber nicht, wenn die alternativen Kräfte sich auseinander dividieren, sondern wenn durch Verbindung auch ganz verschiedener Tendenzen ein neuer Machtblock entsteht. Eine Form von Verbindung würde nun gerade darin bestehen, dass Nichtkeynesianer Keynesianer ihren Weg gehen lassen. Denn man kann sehr wohl für eine Systemalternative sofort eintreten und es trotzdem produktiv finden, dass neben SPD und PDS eine dritte sozialdemokratische Partei entsteht, in die man ja nicht einzutreten braucht. Eine Unterstützung von außen würde niemand zweideutig finden.
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