Die Gründung der Partei, die mit der SPD bricht, ist in vollem Gange. Wäre noch ein Anstoß nötig gewesen, hätte ihn vorige Woche eine Umfrage gegeben: 38 Prozent der Bundesbürger können sich vorstellen, ihre Stimme der Partei "für Arbeit und soziale Gerechtigkeit", die seit Monaten von Gewerkschaftern angeregt wird, zu geben. Sechs Prozent sind sich ihres Votums sogar schon sicher. Aber zum Zeitpunkt der Umfrage war ohnehin bereits klar, dass der Parteigründungsprozess am 3. Juli konkret eingeleitet werden würde. Der dann zu gründende Verein wird zwei Gründungsinitiativen zusammenschließen: die bayerische "Initiative Arbeit soziale Gerechtigkeit", bekannt durch die beiden jüngst aus der SPD ausgeschlossenen Gewerkschafter Klaus Ernst und Thomas Händel, und die norddeutsche "Wahlalternative", für die sich Mitglieder der Bremer Memorandumgruppe stark machen. Eine Nord-Süd-Schiene - das ist schon einmal gut. Der Verein wird am Gründungstag ein erstes Aktionsprogramm vorstellen, das demnächst von den 70 bereits bestehenden Regionalgruppen diskutiert werden soll. Eine Bundesversammlung im Herbst wählt dann den Vorstand und beschließt die Urabstimmung zur Parteigründung.
Charisma und Parteiprogramme
38 Prozent Interessierte sind eine Chance, aber sie will professionell genutzt werden. Der Parteienforscher Jürgen Falter sagt, die Partei habe dann Erfolgsaussichten, wenn sie charismatische Politiker gewinnen, eine gefestigte Organisationsstruktur aufbauen und die dafür nötigen Finanzmittel aufbringen könne. Das ist wohl wahr. Noch wichtiger als einzelne Charismatiker dürften Beitritte von Abgeordneten aus möglichst allen Bundestagsfraktionen sein. Dann zöge sich schon vor der nächsten Bundestagswahl ein Riss durchs Parlament. Wenn es stimmt, dass längst Kontakte zu Personen aus dem christdemokratischen Arbeitnehmerflügel bestehen, ist der Versuch nicht aussichtslos. Das Organisationspotenzial ist jedoch nur die Basis der politischen Kommunikation. Die Parteigründer erliegen hoffentlich nicht dem altlinken Irrtum, Programmpapiere seien eine ausreichende Kommunikationsgrundlage. Man muss vielmehr fähig sein, die Widersprüche im Denken der Wähler zu erkennen, zur Sprache zu bringen und aufzulösen.
Dazu laden die Ergebnisse anderer Umfragen ein. Die 38 Prozent von Interessierten werden weit von jenen 73 Prozent übertroffen, die der Bundesregierung den Willen zur Gerechtigkeit absprechen. Doch warum interessiert sich nur die Hälfte von ihnen für die neue Partei? Offenbar gibt es unter den 73 Prozent Unzufriedenen viele, die für Merkel und Stoiber gestimmt haben. Dem wiederum widerspricht, dass 61 Prozent Gerhard Schröder im Amt halten wollen.
Diese widersprüchlichen Befunde lassen sich vielleicht folgendermaßen deuten: Viele sehen in Schröder noch das kleinere Übel, während andere sich über die Politik der "christlichen" Parteien täuschen, weil ihre Kenntnisse kaum über die Parteinamen hinausreichen. Andererseits könnten sich auch die 38 Prozent Interessierten wieder verlaufen, denn eine weitere Umfrage klärt darüber auf, dass 26 Prozent ihre Unzufriedenheit damit begründen, dass die Reformen zu radikal seien, 49 Prozent dagegen meinen, nur die "Vermittlung" sei unzureichend. Manche, die die Ungerechtigkeit sehen, scheinen sich ihrer Sache doch nicht ganz sicher zu sein. Es ist ja in der Tat ungeheuerlich, wenn man einem SPD-Kanzler den Willen zur Ungerechtigkeit unterstellen muss. Viele würden ihm liebend gern glauben, es fällt nur immer schwerer.
Für Schröder und gegen die Kanzlerpolitik
Selbst das Gewerkschaftslager, aus dem die neue Partei hervorgeht, wird von einem Widerspruch durchzogen: Hier wollen nur 35 Prozent, dass ihre Führung Druck auf die Bundesregierung ausübt, während 61 Prozent aufs geduldige Weiterverhandeln setzen. Sie unterscheiden sich insoweit nicht von der Gesamtbevölkerung, die, wie gesagt, mit ebenfalls 61 Prozent noch immer auf Schröders Fähigkeit als Kanzler schwört. Zugleich nimmt sogar die Zahl der Gewerkschafter ab, die ihre Organisation für "modern und zukunftsfähig" (45 Prozent), ja für "unverzichtbar" halten (41 Prozent). Diese Befragten haben nicht begriffen, dass die von ihnen bemerkte ökonomische Ungerechtigkeit mit dem Versuch zusammenhängt, die Gewerkschaften zu zerschlagen.
Die Gewerkschaftsführung macht es richtig. DGB-Chef Michael Sommer distanziert sich zwar scharf von dem Parteigründungsprojekt. Als Vorsitzender einer Einheitsgewerkschaft kann er nicht anders. Aber ebenso deutlich setzt er sich vom Kanzler und auch von Franz Müntefering ab. Wie soll man die zögerlichen, gutgläubigen Kollegen behandeln: nicht verschrecken oder gerade aufschrecken? Sommer zieht im Moment das Zweite vor. Im vorigen Jahr hatte er noch zwischen den Gewerkschaftsführern, die an Schröders Vernunft appellieren wollten und denen, die auf Konfrontationskurs gingen, zu vermitteln versucht. Jetzt hat der DGB-Chef erkannt, dass es auf Schröder gar nicht mehr ankommt. Der DGB muss rechtzeitig mit dem Aufbau einer Front gegen die kommende Kanzlerin Merkel beginnen.
Die Gründer der neuen Partei haben andere Erwartungen zu erfüllen. Sie müssen ein möglichst breites Spektrum ansprechen. Die skizzierten Widersprüche in den Umfragen weisen deutlich darauf hin, dass es darauf ankommt, auch ins christdemokratische Lager einzubrechen; vielleicht lassen sich sogar Teile der Kirche zum Mitmachen bewegen. Überhaupt hat eine Parteineugründung dann Chancen, wenn sie nicht nur einer einzelnen Partei Stimmen abjagt, sondern zum gesamten Parteiensystem querliegt, und zwar mit einer neuen politischen Idee, wie es den Grünen Anfang der achtziger Jahre gelang. Nun hat die neue Partei neue Ideen vorerst nicht zu bieten. Das schadet in diesem Fall jedoch nichts. Sie ist zunächst nur die Antwort auf das ganz neuartige Phänomen, dass eine große Partei, die SPD, sich selbst völlig aufgibt. Um so mehr muss die neue Partei querliegen für enttäuschte Unionswähler. Vielleicht treten Norbert Blüm und Heiner Geißler als Unterstützer auf?
Die neue Partei stellt den Gerechtigkeitsbegriff ins Zentrum. In dieser Positionierung hat sich auch die PDS versucht. Aber die PDS ist eine "strukturelle Ostpartei", wie die Neuen mit Recht sagen. Jetzt ist der Westen an der Reihe.
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