Radikal ab 2050

Grüner Parteitag Analyse befriedigend, in Machtfragen mangelhaft

Die Grünen waren niemals links, auch nicht in den achtziger Jahren, denn sie stellten auch damals nicht die soziale Frage in den Mittelpunkt, behauptete kürzlich Gregor Gysi. In der Tat stellten sie vielmehr die Klimakatastrophe in den Mittelpunkt, die 1980 von dem Umweltreport Global 2000 prognostiziert worden war. Sie wurden das ganze Jahrzehnt hindurch von Kommunisten geführt, etwa Rainer Trampert (vorher KB) und anfangs Rudolf Bahro (vorher SED), die ihre Organisationen verlassen hatten oder von ihnen ausgeschlossen worden waren. Leute wie Trampert sahen ein, dass das kommunistische Ziel heute als zugleich ökologisches buchstabiert werden muss. Sie wussten, "der Arbeitsplatz des Holzfällers" ist durchaus nicht "wichtiger als der Baum", wie man 1980 in einer sozialfreundlichen Zeitung hatte lesen können. Aber sie waren phantasielos, wurden zunehmend von den Realos um Joschka Fischer bedrängt und mussten die Parteiführung schließlich an sie abgeben.

Jetzt ist Fischer endlich gegangen, der alles Mögliche in den Mittelpunkt stellte - Menschenrechte, europäische Integration, den Krieg gegen Jugoslawien -, nur nicht die Klimakatastrophe. Die seinen Platz einnehmen, wollen das, so sagen sie, jetzt wieder tun. Der Leitantrag des Parteitags in Köln, unter dem Namen wie Kuhn und Loske, Künast und Bütikofer stehen, trägt den Titel Für einen neuen Realismus in der Ökologiepolitik - Der Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen ist die Kernaufgabe der Grünen. Kehren sie also zu ihren Wurzeln zurück? Die Kritik an der eigenen jüngsten Vergangenheit fällt nicht gerade entschieden aus. Es wäre falsch, heißt es im Leitantrag, die rot-grünen Kompromisse zur programmatischen Basis für die Zukunft zu machen; "das Bestreben, nicht anzuecken, wäre unzeitgemäß". Offensiv klingt das nicht, eher nach dem Hund, der zum Jagen getragen werden muss. Wenn man dann noch sieht, wie Jürgen Trittin sich zum nächsten heimlichen Parteivorsitzenden aufzubauen versucht - er redet fast nur von Außenpolitik, will offenbar wie Fischer Bundesaußenminister werden -, kommen Zweifel auf über die Zentralität der Klimafrage.

Ein fast komisches Verbalballett wird um die Wörter "Radikalismus" und "Realismus" getanzt. "Neuer Realismus und neue Radikalität" seien heute zwei Wörter für dasselbe, behauptet der Leitantrag. Loske sagt dazu in seiner Rede, die katastrophalen Entwicklungen zu benennen, sei nicht Alarmismus, sondern radikaler Realismus. Nicht wenige Delegierte wollen mehr. Sie fordern statt Verbalradikalismus "radikale Anträge", die ihrer Meinung nach nicht vorliegen. Der Bundestagsabgeordnete Hans-Josef Fell sagt, er halte einen Beginn von "Null-Emission" schon 2030 für realistisch. Loske und der Leitantrag wollen aber eine Übergangsfrist bis 2050. Fell und seine Freunde bleiben in der Minderheit. Trittin unterstützt den Leitantrag und sagt, radikal sei der, der zeige, welche Wege man gehen könne.

Dennoch ist dieser Leitantrag nicht nur ein Spiel mit Wörtern. Er trägt in manchen Teilen zur Klärung von Problemen bei. Besonders gilt das von der Passage über Bioenergien, die heute als Alternative zu Kohle, Atom, Öl erscheinen und es auch sind. Aber mit Recht mahnen die Grünen zur Vorsicht: "In tropischen Ländern besteht die Gefahr, dass der Anbau von Energiepflanzen zur massiven Rodung von Primärregenwald führt", nur weil wir im reichen Norden auf "unsere Automobile" nicht verzichten. Man könnte diese doch wenigstens vermindern, indem "in Ballungsräumen ein wohnortnahes Netz von Carsharing-Stationen aufgebaut wird, das die temporäre Nutzung - und nicht den Besitz - von Autos unterstützt". "Auch konkurriert die Nachfrage des Nordens nach Biomasse schon heute mit der regionalen Versorgung von Nahrungsmitteln in Ländern des Südens." Woran man nebenbei sieht, dass die soziale Frage den Grünen doch nicht ganz gleichgültig ist.

Das war schon immer so: recht stark in der Analyse, in Machtfragen jedoch so wenig überzeugend, dass man sich dauernd fragte, ob man sie für verlogen, feige oder blauäugig halten soll. Der Machtbezug beschränkt sich im Leitantrag auf die Nennung von Zielen. Dass es Gegner geben könnte - solche, die die Durchsetzung der Ziele verhindern -, kommt nicht vor. Aber in den Parteitagsreden ist von ihnen die Rede, man sieht also, die Grünen wissen sehr wohl von ihrer Existenz. Die deutschen Energiekonzerne werden "ihrer Aufgabe nicht gerecht", sagt Loske. Er weiß sogar von dem Hemmnis, das die Selbstverwertung des Kapitals für die Entfaltung ökologischer Produktivkräfte bedeutet: Vorhandene Kapitalanlagen, klagt er, sollen bis 2050 laufen (damit ihr Wert nicht vernichtet wird) und werden bis dahin den Weg zur Umorientierung "sperren". Das ist also der Grund, weshalb der Leitantrag die Null-Emission erst 2050 beginnen lässt.

Man braucht sich nicht darüber zu wundern, denn schon das "AutorInnenpapier" ihres Marktkongresses Anfang November hat den Slogan Die unsichtbare Hand des Marktes wird grün verkündet, und dort konnte man lesen, Schumpeters Definition kapitalistischen Unternehmerhandelns als "schöpferische Zerstörung" stehe "für die ökologische Neuorientierung": "Schöpferische Zerstörung ebnet den Weg zur Bewahrung der Schöpfung." Da denkt sogar Bundesumweltminister Gabriel (SPD) weniger verschwommen, denn für ihn ist dieselbe Definition eine Warnung: "Innovation bleibt immer ›schöpferische Zerstörung‹ (Schumpeter)", schreibt er in einem Papier, "Win-win-Situationen in Bezug auf Umwelt und Wirtschaft schließen Verteilungskonflikte innerhalb der Wirtschaft nicht aus".

Nein, zu ihren Wurzeln kehren die Grünen nicht zurück. Aber als Partner für mögliche linke Koalitionen scheiden sie deshalb nicht aus; im Gegenteil, ihr Thema legt solche Koalitionen nahe. Dass manche Parteiführer gern über schwarz-grüne Bündnisse spekulieren, ist kein Gegenargument. Wenn Kuhn in seiner Rede die Losung ausgibt, man führe keine Lagerwechseldebatte, sondern wolle die inhaltliche Konfrontation mit SPD und CDU, dann ist darin sogar noch etwas von der alten Einsicht, dass die SPD kein kleineres, sondern grundsätzlich das gleiche Übel ist wie die CDU. Nicht im Einzelnen, aber im Ganzen wäre die Gleichbehandlung beider Parteien die "radikale" Schlussfolgerung. Und Kuhn fügt ja hinzu: "Vielleicht bewegt sich die CDU eines Tages, aber das heißt nicht, SPD hatten wir ja schon", jetzt also Lagerwechsel; vielmehr ist die CDU "ökologisch immer noch das Mieseste in der Parteienlandschaft". Gleichwohl ist mit Händen zu greifen, dass sie nach neuen Regierungsabenteuern gieren und sich wahrscheinlich erneut billig verkaufen werden. Das ist die Gefahr! Und nicht, ob Beck plus FDP oder Merkel plus FDP den Zuschlag erhalten. Aber man kann ja versuchen, sie in ein besseres Bündnis zu bugsieren, mit einer SPD nämlich, die sich gewandelt hat.


Der digitale Freitag

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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