Richard Wagner und Karl Marx zu vergleichen ist eine Sache, die sich geradezu aufdrängt. Nicht nur, weil sie fast gleichzeitig gelebt haben, Wagner von 1813 bis 1883, Marx von 1818 bis 1883. Sondern auch, weil sich ihre Gedanken noch um das Jahr 1848 herum stark ähneln.
Man lese nur: Bei Richard Wagner „verbleibt“ dem Arbeiter davon, dass „er das Produkt seiner Arbeit von sich gibt“, „nur der abstrakte Geldwert“, und „so kann sich unmöglich seine Tätigkeit je über den Charakter der Geschäftigkeit der Maschine erheben“. Er ist ein „künstlicher Sklave, dem er bis jetzt diente wie der Fetischanbeter dem von seinen eigenen Händen verfertigten Götzen“. Dabei bleibt es aber nicht, denn „die brüderliche Menschheit“ wird eine Gesellschaft schaffen, in der „die Industrie nicht mehr unsere Herrin, sondern unsere Dienerin ist“. So steht es in Wagners Kunst und Revolution aus dem Jahr 1849. Die entsprechenden Marx’schen Formulierungen sind bekannt genug.
In einem Punkt stimmen sie lebenslang überein: „Unser Gott aber ist das Geld“, schreibt der Komponist. „Das Geld ist der Gott unter den Waren“, schreibt der Philosoph in Grundrisse aus dem Jahr 1858.
Beide beginnen mit demselben philosophischen Rüstzeug, bei Ludwig Feuerbach nämlich. Der Künstler, schreibt Wagner, geht von der „sinnlichen Welt“ aus; er kann nicht „aus dem Wesen des abstrakten Geistes“ Kunst schaffen. Das aber mutet ihm das Christentum zu, als dessen Erben Wagner die Industrie auffasst. Abstraktion statt Sinnlichkeit, darauf läuft es beim „Sklaven der Industrie“ hinaus, da dessen Tätigkeit nur dem „abstrakten Zweck der notdürftigen Erhaltung des Lebens“ gilt, „und so sehen wir mit Entsetzen in einer heutigen Baumwollenfabrik den Geist des Christentums ganz aufrichtig verkörpert“. Sinnlichkeit statt Abstraktion ist auch Marx‘ Kampfruf in seinen Jugendschriften. Sie haben ihn beide von Feuerbach entlehnt.
Kommunismus als Bund der Liebe
Schauen wir zu, wie Wagner die Sinnlichkeit musikalisch zur Geltung bringt. Man begreift es nicht immer leicht. Beim Tannhäuser meint man eher, hier solle Sinnlichkeit christlich verteufelt werden. Denn der Titelheld, der im „Sängerkrieg auf der Wartburg“ die sinnliche Liebe feiert, löst Entsetzen bei seinen christlichen Gastgebern aus, sodass er sich bekehrt und nach Rom fährt, um die Vergebung des Papstes zu erlangen. Wie kann jemand mit Wagners Gesinnung so etwas schreiben?
Nun, wenn hier das Christentum so gut wegkommt, dann, weil Wagner Authentischeres in der deutschen Geschichte, zu der er sich bekennen will, nicht findet. So erklärt er selbst seine Haltung. Deshalb also wird ausgerechnet der Pilgerchor – und ihm folgend die Tannhäuser-Ouvertüre – zum Ort musikalischer Innovation. Die choralartige Komposition kann uns noch heute erschüttern, weil sie Sehnsucht ausdrückt. Sehnsucht wonach? Die Musik sagt es deutlich genug: sich fallen lassen zu dürfen. Das ist keine kirchliche Sehnsucht, eher allenfalls ein Appell an die Kirche, den die Pilger mit einer Inbrunst, die wie Höllenfeuer brennt, vor sich selbst verheimlichen.
Die großen Musikdramen, besonders Tristan und Isolde aus den Jahr 1865, aber auch der Ring des Nibelungen, den Wagner 1852 gedichtet hat, bekennen sich ganz unverhüllt zur sinnlichen Liebe. Dass sie so im Zentrum steht, ist natürlich schon deshalb kein Wunder, weil Opern immer so waren.
Ein weiterer Grund ist aber, dass Feuerbach den „Kommunismus“ als Bund der Liebe verstanden hatte. Davon wendet sich Marx bald ab, es ist in seinen Augen eine Phrase. Ein Satz wie „Ich liebe euch doch alle“ wäre nie über die Lippen des knurrigen Mannes gekommen. Wagner indes holt aus der herkömmlichen Opernliebe die Schicksalsmacht der antiken griechischen Tragödie, die er wiederbeleben will, heraus. Sein „Kommunismus“ besteht darin, sich „willig der großen Notwendigkeit“ unterzuordnen – das ist der tragische Eros –, statt in „egoistischer Ruhe“ zu verharren. „Große Notwendigkeit“: Die Liebe ist nicht nur Privatschicksal, sondern auch die tragische Triebkraft des Weltlaufs.
So geht die Handlung des Ring davon aus, dass jemand durch Geld („Rheingold“) mächtig sein will und dafür den Preis zahlt, der Liebe zu entsagen. Auf solcher Basis erhebt sich zuletzt die Macht der Gibichungen, die „herrlich am Rhein sitzen“ wie die Ruhrindustriebarone. Gegen sie steht Siegfried, der die Liebe der göttlichen Brünnhilde erwirbt und von dem man erwartet, dass er der Welt neue Wege weist, nachdem er den alten Gott, Brünnhildes Vater, beiseitegeschoben hat. Doch kaum bei den Gibichungen angelangt, wird er auf Normalmaß zurechtgestutzt und scheitert. Man gibt ihm einfach eine neue Liebe und lässt ihn die alte vergessen. Der alten war er auf der Wiese begegnet. Die neue ist eine Palastdame.
Mit solchen geistigen Mitteln, seien sie noch so verführerisch in Musik gegossen, lässt sich gewiss kein Staat machen oder abschaffen, schon gar nicht in Richtung „Kommunismus“. Nein, dazu muss man nachdenken. Wer nachdenkt, darf die Eiswüste der Abstraktion nicht scheuen. Marx sieht das bald ein, nur so konnte er Ökonomie studieren. Wagner hätte es auch einsehen können, denn auch die Musik arbeitet mit dem Abstrakten. Als eine Art Mathematik ist sie eine Kunst des Möglichen und Unmöglichen. Mathematisch kann gezeigt werden, wie ein Gegebenes transformiert werden kann, und darum geht es auch in Kompositionen. Die Oper allerdings hat davon recht wenig Gebrauch gemacht. Wagner, so sehr er sich von der Operntradition abwenden will, bleibt ein typischer Opernkomponist. Zwar ist die große symphonische Form seiner Musikdramen bewundernswert, doch das Spiel mit Varianten geht über untere Schwierigkeitsgrade nicht hinaus, selbst wo er parodistisch vorführen will, dass er könnte, wenn er wollte.
Marx’ Abstraktion
Im Ganzen bildet seine Musik doch nur Wirkliches statt Mögliches ab. Natürlich fragt auch Wagner als Revolutionär nach der besseren Welt, die möglich wäre. Als Musikant aber substituiert er das Mögliche durch den Gefühlsausdruck der Sehnsucht, das Unmögliche durch Frust und das Notwendige durch Pathos. Derart lässt sich dann auch der eigentlich unbekannte Lauf des Schicksals als Fakt auf die Bühne bringen. Das fällt umso leichter, als auch er durch Liebeshändel, solche der Götter, vorangetrieben wird. So muss sich Wotan (Zeus), der seine Tochter Brünnhilde (Athene) liebt, im Ring mit der Eifersucht seiner Gattin Fricka (Hera) herumschlagen. Bei Homer ist das ein Nebenmotiv, Wagner macht daraus die Hauptsache.
Und doch, so erstaunlich es ist: Selbst in Wagners Musiksprache lässt sich die entscheidende „abstrakte“ Einsicht von Marx zum Ausdruck bringen. Die liegt in dem Satz der Grundrisse: „Das Kapital als solches setzt nur einen bestimmten Mehrwert, weil es den unendlichen nicht at once setzen kann; aber es ist die beständige Bewegung, mehr davon zu schaffen.“
Wenn es zu Marx‘ und Wagners Lebzeiten eine schicksalhafte Notwendigkeit gab oder zu geben schien (und wenn es sie noch heute zu geben scheint), dann ist es diese des ökonomischen Wachstumszwangs. Davon hatte Wagner zwar keinen Begriff, ja nicht einmal eine Ahnung. Doch gelingt ihm in Tristan und Isolde, wenn er vertont, was „mir der Tag erweckt“, eine eindrucksvolle musikalische Versinnbildlichung des Falls ins Unendliche. Er hat inzwischen, also im Jahr 1854, Schopenhauer gelesen, der davon auch etwas zu sagen weiß, wenngleich nichts Ökonomisches.
Das Schlimme ist nur, auch Tristan und Isolde, so sehr sie in die Nacht flüchten, kommen nur zwischendurch einmal zur seligen Ruhe. Wie es in der Natur der sinnlichen Liebe liegt, schwillt dann gleich wieder die Sehnsucht an, will sich Liebeswut unendlich ausdehnen. Wen wundert‘s, dass die beiden geradewegs in die vorbereitete Falle der Häscher des „Tages“ laufen.
Im Parsifal von 1882 ist Klingsor der Haupthäscher und zugleich der teuflische Agent des Liebesverfallens, das jetzt per se eine Falle ist und als solche eingesetzt wird. Wagner konnte nicht mehr anders, als in der sinnlichen Liebe selber das Verhängnis zu sehen. Das ist das paradoxe, aber nachvollziehbare Endergebnis seiner Abstraktionsfeindschaft. Ins Heute übersetzt ist es die Vorstellung, der Kapitalismus sei so schlimm wie unüberwindlich: Schlimm, weil die Gier der Banker ihn vorantreibe, unüberwindlich, weil wir ja alle gierig sind, und gerade in dem, was uns wichtig ist – der sinnlichen Liebe.
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