Radikale Schritte

Geschichte Zum Tod des Historikers Reinhart Kosellek

Reinhart Kosellek, der vergangenen Freitag starb, war ein Historiker von europäischem Rang und einer der großen Gelehrten der alten Bundesrepublik. Schon mit seiner Dissertation, die 1959 erschien - Kritik und Krise. Eine Studie zur Pathogenese der bürgerlichen Welt -, setzte er in nicht nur historischer, sondern auch philosophischer Perspektive den Kontrapunkt zum Geschichtsbild des anderen deutschen Staates. Die Frage, was unter "Geschichte" zu verstehen sei, blieb seine wissenschaftliche Leidenschaft. Die Antworten, die er gab, sind heute ein Prüfstein der Reflexion aller politischen Lager.

Kritik und Krise zeichnet nach, wie das intellektuelle Bürgertum des 18. Jahrhunderts Geschichte in einen "Prozess" verwandelt. Dabei entfaltet sich der juridische Nebensinn des Wortes. John Locke etwa, der englische Philosoph, spricht den Bürgern die geistige Macht der moralischen Urteile zu, wenn sie schon die Exekutivgewalt nicht haben; solche Urteile, postuliert er, besitzen Gesetzescharakter. Die Bürger entwickeln ihre eigenen moralischen Gesetze neben den politischen des Staates. Ihre Finanzkraft erscheint als moralisches Guthaben. Der damit gesetzte Gegensatz zum absolutistischen Staat war nach den Konfessionskriegen nicht gleich zu erkennen gewesen, denn da waren beide Seiten noch einig gegen den politischen Anspruch der Religion. Religion musste sich in die moralische Privatsphäre zurückziehen, in der sie noch heute verharrt. Doch die bürgerlichen Aufklärer weiteten dann den privaten Innenraum zur Öffentlichkeit aus. Obwohl sie die Schranke zwischen Moral und Politik anerkannten, zeigte es sich, dass nichts gefährlicher war als ihre "nur moralische" Kritik der Politik.

Das hing auch damit zusammen, dass die bürgerliche Moral die religiöse geerbt hatte. Denn wenn Bürger "moralische Urteile mit Gesetzescharakter" verkündeten, hieß das, wie Kosellek zeigen kann, dass sie Geschichte wie vor ein Jüngstes Gericht zitierten. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht, sagt Schiller zur Zeit der Revolution. Zugleich proklamiert er die Gerichtsbarkeit seiner Bühne. Selbst die Stützen des Absolutismus konnten sich dem Sog einer solchen Idee nicht entziehen, hatten ihr jedenfalls nichts entgegenzusetzen. Und so fielen sie, als die Aufklärer zuletzt entdeckten, dass ihre Idee ja auch zur Tat drängte, der Tat einer nunmehr moralisch gerechtfertigten Politik.

Im Zuge dieses "Prozesses", den das 18. Jahrhundert anstrengte, entstand der Geschichtsbegriff, von dem später auch die marxistische Arbeiterbewegung zehrt. In Kritik und Krise schreibt Kosellek noch, es sei zu einer geschichtsphilosophischen Verfremdung der Geschichte gekommen: Deren Faktizität wurde geleugnet, alles Geschichtliche sei als machbar erschienen. Die Verfremdung habe sich vom Utopischen her rechtfertigen müssen. Von der Vergangenheit wurde die Kritik der Aufklärer ja nicht autorisiert. So zeige sich aber ein blinder Fleck im Zentrum der Kritik: Auf unbekannte Zukunft verpflichtet, agiere sie von einer ebenso unbekannten Wahrheit her, die erst aus ihrem Vollzug, dem "Fortschritt", entstehe. Später in Vergangene Zukunft. Zur Semantik geschichtlicher Zeiten denkt Kosellek radikaler: Die bürgerliche Geschichtsphilosophie hat nicht Geschichte verfremdet, sondern die Idee "der" Geschichte überhaupt erst geschaffen. Zuvor hatte man nur Geschehnisse erzählt. Sinnzusammenhänge wurden "quer zu allen möglichen Einzelgeschichten entwickelt". Aber nun in "die" Geschichte verwandelt, gewannen sie "eine neue Dimension, die sich der Berichtbarkeit des Berichts entzog und in allen Aussagen über sie nicht einzufangen war". Die Folge ist, dass Geschichte mit göttlichen Epitheta versehen wird - Allmacht, Allgerechtigkeit -, eine Zuschreibung, die sich auf die übertragen kann, die sie machen.

Wir haben erlebt, wie nach 1990 das Ende "der" Geschichte proklamiert wurde. Sollen wir antworten, "die" Geschichte ginge vielmehr weiter? Von Kosellek lernend, erahnen wir darin, dass uns diese Alternative bewegt, die Ursache unserer politischen Lähmung und geradezu einer Geschichtsunterbrechung. Niemals wird unser Handeln von "der" Geschichte autorisiert sein. Aber die Notwendigkeit eines nächsten Schritts - nicht "des" Fortschritts, trotzdem eines Schritts, der radikal geschichtlich wäre - mag sich aus heutigen Unerträglichkeiten, etwa den täglich 26.000 Hungertoten, doch ableiten lassen.


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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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