Randgänge

Philosophie Gezeichnet ...

Gezeichnet

Das Argument konzentriert sich in seiner neuesten Ausgabe auf die Frage der Dialektik. Besonders erhellend ist der Beitrag von Andreas Arndt, dem langjährigen Vorsitzenden des Vorstands der Internationalen Hegel-Gesellschaft. In Was ist Dialektik? erinnert er daran, dass Hegels Dialektik von Kants "Antinomien der Vernunft" ausgeht: "Kant habe gezeigt", wird Hegel zitiert, "dass es ›in der Natur des Denkens selbst‹ liege, ›in Widersprüche (Antinomien) zu verfallen, wenn dasselbe das Unendliche erkennen will‹". Für Hegel liegt dieselbe Widersprüchlichkeit in der Natur der Dinge überhaupt. Das heißt aber, es geht ihm nicht um beliebige Antagonismen, sonst stets um den Widerspruch, in dem ein Endliches zum Unendlichen steht. Nehmen wir irgendeine besondere endliche Sache: Sie kann nur als Negation von allem und durch alles, was sonst noch ist, begriffen werden. Diese "Totalität" ist bei Hegel das Unendliche. Soll man also erst das Unendliche durchschreiten, um dann angeben zu können, welchen Stellenwert das Besondere in ihm hat? Da das unmöglich ist, bleibt nur die Betrachtung der Kette der Besonderheiten in ihrer Erscheinung: Man müsste Augen dafür haben, wie sie je und je vom Schlag der unendlichen Woge gezeichnet sind.

Endlichkeitskunst

Arndt stellt dann fest, dass Marx im Unterschied zu Hegel nur "Widersprüche im Endlichen" kennt. Wenn man weiß, dass eine Endlichkeit, zum Beispiel eine Gesellschaftsformation, an ihrem Widerspruch zugrunde geht, weiß man über das ihr nachfolgende Andere noch gar nichts. Es lässt sich nicht aus einem Geschichtsganzen ableiten, von dem man bereits einen Begriff hätte. Und sollte dies Ganze auf die Endlichkeit einen Schatten vorausgeworfen haben, könnte man ihn jedenfalls nicht sehen. Eine solche Korrektur der Hegelschen Dialektik, schreibt Arndt, macht "zugleich auch eine Diskussion über den Begriff der Wirklichkeit" erforderlich: Die Marxsche Dialektik führt "Probleme der Metaphysik mit sich, auf die sie eine andere Antwort als Hegel gibt".

Unter dem Titel Für praktische Dialektik wendet sich auch Wolfgang Fritz Haug gegen eine "theoretische Dialektik, die als Kunstgriff zur Erschleichung des Unendlichen fungiert". "Praktische Dialektik ist eine Endlichkeitskunst." Sie ist das Wissen, dass eine Handlungsfolge in ihr Gegenteil umschlagen kann, und die Gewandtheit, darauf mit eigenen Wendungen reagieren zu können. Sie weiß auch, "dass jeder Kampf eine Art von Einheit der einander Bekämpfenden herstellt". Wenn über den Begriff der Wirklichkeit diskutiert wird, nimmt sie den Standpunkt "einer negativen Ontologie" ein, "welche die Dinge, Zustände, Vorgänge nicht in ihrer faktischen Positivität allein fassen zu können glaubt", sondern es mit Brecht hält, der geschrieben hat: "Dinge sind Vorkommnisse, Zustände sind Prozesse, Vorgänge sind Übergänge."

Das Kapital

Die These einer Gesamtwirklichkeit, die als unendliche Totalität erkennbar sein soll, ist fragwürdig. Die Antithese einer Dialektik, die sich bescheidet, "Endlichkeitskunst" zu sein, kann mehr überzeugen. Da jedoch von Marx die Rede ist, vermissen wir das Dritte: Es gibt auch eine Unendlichkeitskunst. Hierbei handelt es sich um die Strategie einer endlichen Besonderheit, sich selbst zur unendlichen Totalität zu machen. Obwohl sie natürlich scheitert, ist ihre Wirklichkeit überwältigend. Diese Strategie ist das Kapital. "Das Kapital als solches", schreibt Marx, "schafft einen bestimmten Mehrwert, weil es keinen unendlichen at once [auf einmal] setzen kann; aber es ist die beständige Bewegung mehr davon zu schaffen." Insoweit muss es auch von Marx her eine theoretische Dialektik geben, die ganz genau dem Widerspruch des Endlichen und Unendlichen nachgeht. Ungeachtet aller praktischen Voraussetzungen und Künste ist sie selbst erst einmal das Studium einer Logik, der Kapitallogik.

Das Argument 274. Zeitschrift für Philosophie und Sozialwissenschaften, 50. Jahrgang Heft 1 / 2008

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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