Recht auf Ende

Sterbehilfe 2020 sprach das Bundesverfassungsgericht jedem das Recht zu, über den eigenen Tod selbst zu bestimmen. Das ist begrüßenswert
Ausgabe 07/2021

Zwei Gesetzentwürfe liegen jetzt vor, ein interfraktioneller und einer von Abgeordneten der Grünen, den Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 26. Februar 2020 zur Sterbehilfe umzusetzen. Dem Gericht wurde vorgeworfen, es huldige einem quasi neoliberalen Autonomiebegriff, wenn es das unbedingte Recht jedes Menschen zum Suizid postuliere. Ich sehe das nicht so. Es ist freilich kapitalistische Ideologie, dem einzelnen, gar vereinzelten Menschen eine Autonomie zuzuschreiben, über die zu verfügen weder möglich noch wünschenswert ist. Denn was einen Menschen ausmacht, ist zum größeren Teil das, was andere Menschen ihm gegeben oder nicht gegeben haben, und zum kleineren, wie er darauf reagiert hat. Nur als Rechtsperson kann und soll er autonom sein, soll also nicht nur seinen Pflichten gerecht werden, sondern auch ganz allein entscheiden können, wie er mit den Rechten, die er hat, umgeht und ob er sie überhaupt wahrnimmt. Aber diese Entscheidung, die er dann fällt, ist doch nur die Resultante all dessen, was vorher mit ihm geschehen ist – teils was ihm zugestoßen ist, teils seines eigenen Charakters, den er sich durch Erfahrung und Reflexion hat erwerben können.

Das alles gilt auch für den Suizid. Die vorliegenden Gesetzentwürfe folgen dem Gericht darin, dass jeder Mensch das Recht hat, ihn zu wählen. Aber sie denken auch an dessen Abhängigkeit von anderen Menschen. Diese Abhängigkeit, die der rechtlichen Autonomie nicht widerspricht, sondern sie im Gegenteil erst möglich macht, hat der suizidale Mensch nicht nur von Geburt an genossen, sondern sie ist auch noch im letzten Moment da, dem Moment, wo er im Begriff steht, seine Suizid-Entscheidung auszuführen. Und es ist gut, dass ihrer besonders gedacht wird, wenn ein Gesetz sich damit befasst. Die Entwürfe tun es in der Form, dass dem Suizidwilligen eine Beratung angeboten wird. Nach der Beratung kann er zum Arzt gehen und dieser muss zwar nicht, darf aber das Mittel zur Ausführung verschreiben. Das Gerichtsurteil hätte auch andere Wege erlaubt, das Mittel zu erhalten. Bis hierher scheint mir alles alternativlos zu sein. Vor allem die starke Rolle der Ärzte und Ärztinnen ist gut überlegt, denn wenn es jedermann möglich wäre, das Mittel nicht nur zu produzieren und zu verkaufen, sondern auch darüber, wann es verkauft werden darf, zu entscheiden, wäre dem Missbrauch der Autonomie der Rechtsperson Tür und Tor geöffnet. Es kann dann, wie in anderen Geschäftszweigen auch, das Interesse am Verkauf überhandnehmen.

Die Entwürfe machen es richtig: Sie bejahen das unbedingte Suizidrecht, ohne den Eindruck zu erwecken, der Suizid sei wünschenswert. Das ist er nicht. Man möchte den Suizidwilligen davon abhalten. Hier muss man über die Entwürfe auch hinausdenken. Reicht die amtliche Beratung? Eine befreundete Therapeutin erzählt mir von gar nicht wenigen Ehepaaren, die sie aufsuchen, weil einer der Gatten den Suizid will und die andere es nicht akzeptieren kann. Das persönliche Gespräch der Gatten ist die Voraussetzung dafür, dass es zu dem Schritt, eine Beratungsstelle aufzusuchen, überhaupt kommen konnte.

Aber was heißt Beratung? Ein Mann fürchtet sich vor dem Altwerden. Er hat gerade erlebt, wie ein Freund dement wurde. Er glaubt auch, er habe gut gelebt, und er will „rechtzeitig“ aufhören. Seine Beweggründe hat er im persönlichen Umfeld nicht offengelegt. Man erfuhr sie hinterher aus seinem Tagebuch. Man konnte sich sagen: Wenn ich das gewusst hätte, wäre dieser und jener Einwand möglich gewesen. Aber warum hat man es nicht gewusst? Gibt es nicht Anzeichen genug, aus denen man schließen kann, was im Innern eines anderen Menschen vorgeht? Ja, wenn man fähig ist, sie zu deuten, und das überhaupt will. Amtliche Beratungsstellen sind schön und gut. Aber der Staat könnte auch dafür sorgen, dass es um die Fähigkeit der Menschen, miteinander zu kommunizieren, viel besser bestellt wäre. Schon in der Schule müsste das ein herausragendes Lern- und Übungsfach sein.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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