Rhetorisches Verwirrspiel

Nach der Hessenwahl Die Regierung Koch-Hahn ist zweifellos eine bürgerliche, doch sie repräsentiert keine bürgerliche Mehrheit

In Hessen regiert wieder eine "bürgerliche Mehrheit" - das hat man nicht selten lesen können. Es ist eine konfuse Wortmarke. Natürlich steckt ein Quentchen Wahrheit in ihr: CDU und FDP sind keine Arbeiterparteien. Ihre Politik schadet den Werktätigen mehr, als dass sie ihnen nützt. Aber wenn man nun schlussfolgert, sie könnten, da keine Arbeiterparteien, nur "bürgerliche" Parteien sein, und darin unterschieden sie sich etwa von den Parteien im Berliner Senat, dann beginnt die Konfusion. Was für eine Mehrheit bilden denn SPD und Linke, eine "proletarische Mehrheit" etwa? Ist es so klar, dass ihre Politik den Werktätigen mehr nützt, als dass sie ihnen schadet?

Die Konfusion hat ihre erste Wurzel darin, dass "bürgerlich" den Bourgeois meint, den Groß- oder Kleinbürger, und zugleich den Citoyen, den Staatsbürger oder Verfassungspatrioten. Citoyen und in diesem Sinn "bürgerlich" wollen wir alle sein. Wenn aber von der "bürgerlichen Mehrheit" gesprochen wird, sind Parteien gemeint, die ihre Politik so darstellen, als ob das jedenfalls eine Citoyen-Politik sei, die deshalb ruhig auch bourgeois sein dürfe. Wenn hier im Folgenden von "bürgerlich" die Rede ist, ist immer "bourgeois" gemeint.

Die zweite Wurzel der Konfusion liegt darin, dass die heutige Sozialstatistik aus Angestellten und Beamten einen "neuen Mittelstand" macht und diesen als modernen Nachfolger des klassischen Kleinbürgertums sieht. Also als bürgerlich. Das ist desorientierend. Wenn als Arbeiter diejenigen definiert werden, die den Mehrwert produzieren, dann sind Angestellte im konstruktionstechnischen Büro und Beschäftigte in den Werkhallen nur verschiedene Fraktionen ein und derselben Arbeiterschaft. Man unterschied sie früher gern als white collars von blue collars, weiße von blauen Hemdkragen, und das sind Namen, die den Kern der Sache genau treffen: Belanglose Äußerlichkeiten, bloße Statussymbole dienten dazu, zwei Arbeiterfraktionen gegeneinander auszuspielen. Heute ist dieser angebliche Klassenunterschied noch unplausibler geworden, weil sich sogar die Tätigkeit beider Fraktionen immer mehr angleicht, denn im Büro wie in der Werkhalle ist der Computer das hauptsächliche Arbeitsinstrument.

Es ist auch desorientierend, die Beamten zur eigenen Klasse zu machen, denn wer das tut, definiert im Grunde die personale Zusammensetzung des Staates als klassenneu­tral. Die Frage nämlich, ob diese Beamten aus groß- oder kleinbürgerlichen, bäuerlichen oder Arbeiterhaushalten kommen, scheint dann irrelevant zu werden, weil ja alle, sobald sie in den Staat eintreten, sich in eine neue Klasse mit neuen Haushalten, eben die der Beamten, verwandelt haben. Aber ist es etwa nicht relevant, dass die Personen, die den Staat darstellen, immer noch ganz überproportional aus dem traditionellen Kleinbürgertum kommen? So spricht man erhellend vom Klassencharakter eines Staatspersonals: Auch Beamte können sich nur als besondere Fraktion von den anderen Mitgliedern ihrer Klasse, sei es der Arbeiterschaft oder einer anderen, unterscheiden.

Die dritte Wurzel der Konfusion: Man verwechselt die Frage, welche Partei von einer sozialstatistischen Gruppe bevorzugt gewählt wird, mit der Frage, aus welchen sozialstatistischen Gruppen einer Partei die meisten Wählerstimmen zufließen. Kein Zweifel, "Selbstständige" wählen bevorzugt FDP und Unionsparteien, und die meisten von ihnen sind Kleinbürger. Aber da es in der ganzen Bevölkerung nur noch unter fünf Prozent Kleinbürger und -bauern gibt, sagt das über die Quellen der Wählermacht der Parteien kaum etwas aus. Nein, man kann davon ausgehen, dass alle Parteien, die im Bundestag vertreten sind, und besonders die beiden großen Parteien, an ihrer Wählerschaft gemessen "Arbeiterparteien" sind. Ebenso kann man davon ausgehen, dass die Führung aller Parteien in den Händen des Kleinbürgertums liegt, das nun einmal, so winzig es ist, in den Staatsapparaten dominiert. Parteiführer sind bekanntlich Staatsmänner und -frauen wie Müntefering (Vater Landwirt), Merkel (aus einem Pfarrhaus) oder Künast (Rechtsanwältin).

Was hat es dann für einen Sinn, "bürgerliche" von nichtbürgerlichen Mehrheiten zu unterscheiden? Viele meinen, die Politik der SPD sei arbeiterfreundlich, die der Union sei es nicht. Andere meinen, auf jeden Fall sei die Politik der Linkspartei arbeiterfreundlich. Das kann ja auch dann stimmen, wenn Müntefering nicht in einem Arbeiterhaus geboren wurde. Es kann auch falsch sein, denn was arbeiterfreundlich ist, entscheidet sich weder am guten Willen noch an der Klassenbestimmtheit des Parteiführers. Sondern an dem, was wirklich geschieht infolge einer Politik, die sich auf mehr oder weniger treffende Analysen stützt.

Was aber bei Betrachtungen solcher Art unter den Tisch fällt, ist gerade das Entscheidende: dass arbeiterfreundliche Politik von den Arbeitern selbst - einschließlich ihrer großen Angestellten- und kleinen Beamtenfraktion - ausgehen müsste. Außerdem könnten Arbeiter und Kleinbürger ja auch zusammengehen. Die Arbeiter indessen sind gespalten, wählen teils SPD, teils CDU, teils auch FDP, Grüne und Linkspartei. So verhält es sich schon lange, so war es jetzt wieder bei der Hessenwahl. Die Regierung, die dort gesiegt hat, ist zweifellos eine "bürgerliche" Regierung. Aber zu sagen, sie repräsentiere eine "bürgerliche Mehrheit", ist Unsinn. Es gelingt ihr vielmehr, sich auf Werktätige zu stützen. Was nicht so bleiben muss.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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