Rhythmus und Geräusch

Maerzmusik 2013 Vom Berliner Festival für aktuelle Musik - vierter Bericht

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Rhythmus und Geräusch

Foto: Mark Kolbe/ AFP/ Getty Images

Zur Frage, warum das Schlagzeug für die Neue Musik so wichtig geworden ist, hat die Festivalleitung einen hervorragenden Essay des Berliner Musikjournalisten Björn Gottstein bestellt, den ich vorstellen und im entscheidenden Punkt kritisch hinterfragen will.

Gottstein übernimmt die These Fred K. Priebergs, der 1956 schrieb, das Maschinelle und das Kultische habe am Anfang der Neuen Musik gestanden. Das Kultische: Strawinskys Sacre du Printemps, 1913. Das Maschinelle: Honeggers Pacific 231, die musikalisch in Szene gesetzte Fahrt einer Dampflokomotive, 1923. Zwar ist die These einseitig und geradezu absurd, denn auch Arnold Schönbergs Musik, die weder kultisch noch maschinell ist, steht "am Anfang" und hat weit mehr als Honegger gewirkt. Man könnte sagen, die Neue Musik beginne mit dem Gegensatz von Schönberg, dessen Musik zunächst deutsche Innerlichkeit à la Brahms fortführt - doch mit dem radikal neuen Mittel der Atonalität -, und Strawinsky, der an Debussy anknüpft. Das neue politische Bündnis zwischen Russland und Frankreich spiegelt sich hier wider. Erst ein halbes Jahrhundert später wird ein Franzose, Pierre Boulez, sich auf die Musik der Schönberg-Schule berufen. Wenn Kult in dieser Schule einmal vorkommt, dann als das Böse. So stellt ihn Schönberg in der Oper Moses und Aron dar. Boulez aber ist ein Hauptexponent der Neuen Musik. Man kann diese nur angemessen charakterisieren, wenn man ihn und die Schönberg-Schule nicht übergeht.

Es trifft aber wahrscheinlich zu, erstens dass solche Rhythmen, wie sie bei Strawinsky und Honegger begegnen, zur Bedeutungsvermehrung des Schlagzeugs beitrugen, und auch zweitens, dass vom immer wichtiger werdenden Schlagzeug die "Emanzipation des Geräuschs" ausging, weil "Rhythmusinstrumente zugleich Geräuschwerkzeuge" sind, wie Prieberg schreibt. Im Übrigens bedurfte es Strawinsky und Honeggers gar nicht, um zu bewirken, dass für Jazz, Rock'n Roll und Beat "das Schlagzeug zu einer Voraussetzung, ja zu einer Bedingung wurde", so Gottstein. Diese Entwicklung dürfte ganz unmittelbar von einer maschinell und kultisch gewordenen Welt ausgegangen sein. Ja, auch kultisch ist diese Welt geworden. "Der 'Wilde'", schreibt Max Weber 1913 - im selben Jahr also, in dem Le Sacre in Paris uraufgeführt wird -, "weiß von den ökonomischen und sozialen Bedingungen seiner eigenen Existenz unendlich viel mehr als der im üblichen Sinn 'Zivilisierte'." Denn "kein normaler Konsument weiß heute auch nur ungefähr um die Herstellungstechnik seiner Alltagsgebrauchsgüter, meist nicht einmal darum, aus welchen Stoffen und von welcher Industrie sie produzieren werden". Wir erleben die Dinge, die heute auf Knopfdruck passieren oder indem wir etwas sagen und die Maschine es "hört", wie Wunder und somit als Wilde. Mit der Wildheit kehrt der Kult zurück. Mindestens müssen beide durchlebt und abreagiert werden, wozu sich Musik gut eignet. Angesichts dessen, dass uns Schlagzeugrhythmen Beine machen, kann auch von einer "Wiederentdeckung des Körpers" (Gottstein) gesprochen werden, doch sie geschieht eben im musikalisch-kultischen Rahmen, woran gar nichts auszusetzen ist.

Was die Wunderwelt angeht, beginnt zwar der Konsument aus ihr auszubrechen, seit es die ökologische Bewegung gibt. Viele wollen jetzt wissen, wie hergestellt wird, aus welchen Stoffen und von welcher Industrie. Doch die Selbstlauflogik des Maschinellen und Kultischen ist noch längst nicht gebrochen.

Der Zusammenhang von "Rhythmusinstrumenten" und "Emanzipation des Geräuschs" ist entscheidend. Aber auch in dieser Aussage liegt eine Konfusion. Emanzipation des Geräuschs: Wie Gottstein zeigt, kamen die wichtigsten Neuerungen von Edgar Varèse (Ionisation, 1931, ist ein reines Schlagzeugstück) und John Cage (Constructions in Metal, 1939-41). Mit dem Schlagzeug fing es also an. Cage integrierte dann auch pure Straßengeräusche in seine Musik. So weit, so gut. Man darf nun aber nicht glauben, dass sich die Entwicklung des rhythmischen Komponierens in der Entwicklung der "Rhythmusinstrumente" erschöpft. Wenn das so wäre, hätten die genannten Werke von Strawinsky und Honegger, in denen das Schlagzeug keine hervorgehobene Rolle spielt, ja gar nicht die Wirkung haben können, die Prieberg ihnen zuschreibt. Es ist deshalb eine Vermengung, wenn er einen "Einbruch des Rhythmus" in die Musik behauptet und von dort unmittelbar aufs Schlagzeug springt. In Wahrheit haben Entwicklung des rhythmischen Komponierens und Emanzipation des Geräuschs kaum etwas miteinander zu tun, denn während man, um rhythmisch zu sein, kein hypostasiertes "Rhythmusinstrument" braucht, braucht man sehr wohl das Schlagzeug, um Sondergeräusche zu fertigen.

"Blicken wir", schreibt Gottstein, "auf die Geschichte der Schlagzeugmusik seit den 1930er Jahren zurück, dann wird deutlich, wie konsequent die Komponisten das Instrumentarium entwickelt haben." Das stimmt. Aber man darf deshalb nicht der Verlockung des Pariser Musikinstrumente-Museums verfallen, in welcher die Entwicklung der Musik schlechthin als Entwicklung ihrer Instrumente dargestellt wird - gleichsam als deren Überbau. Eine Darstellung, die dann fast nur Franzosen als Träger der musikalischen Entwicklung kennt. Immerhin kommt Beethoven vor, aber nur weil er aus dem neuen Piano die dynamischen Möglichkeiten herausholte. Ja, bei Beethoven wird der Rhythmus zum eigenständigen Sinnträger. Er wird es aber nicht deshalb, weil Beethoven aufs Piano stieß, von dessen neuen "Möglichkeiten" begeistert war und sie nun auch ausprobieren wollte (so wie man heute den immer neuen "Möglichkeiten" der PC-Welt hinterherrennt), sondern es war umgekehrt: Er selbst brachte sich eine neue Rhythmik bei - die seine revolutionären Vorstellungen von Individualismus und Solidarität widerspiegelten (das war es, was ihn mit Frankreich, der Französischen Revolution verband) - und übertrug sie aufs Piano.

Da Gottstein hier nicht unterscheidet, gelangt sein Essay gerade da an einen schwierigen Punkt, wo er auf Boulez zu sprechen kommen muss. Nein, wo er hätte tun müssen, aber nicht tut! Ganz richtig fängt er an: "Mit seinen 'Mode de valeurs et d'intensités' wagte Olivier Messiaen 1949 ein Experiment mit weitreichenden Folgen. Indem er die Schönbergsche Reihentechnik nicht nur auf die Tonhöhe anwendete, sondern auch auf eine Reihe anderer Elemente, darunter auch die Tondauern" - die das rhythmische "Element" sind -, "hob er die Hierarchie unter den Parametern auf" (die er vorher als "Elemente" bezeichnet). Er hätte hinzufügen sollen, dass die "weitreichenden Folgen" mit Boulez begannen und ohne ihn kaum denkbar sind. Boulez war Messiaens Schüler. Die Mode de valeurs brachten ihn dazu, seine ersten Klavierstücke zu schreiben, die der Ausgangspunkt seines "seriellen" Komponierens sind. Das Besondere an den Klavierstücken sind die unglaublich komplexen Rhythmen, die Boulez errechnet. Dem Schlagzeug hat er sie nicht abgelauscht. Höchstens kann man sagen, dass das Klavier ja selbst eine Art Schlagzeug ist. Doch wie gesagt, er hat gerechnet und nicht am Klavier herumprobiert.

Wenn Gottstein nicht umhin kann, Messiaens Rolle hervorzuheben, ist er doch "irritiert": "Was daran irritiert, ist, dass Messiaen die rhythmische Schicht der Musik emanzipiert, obschon oder vielleicht auch gerade weil er sie nicht explizit gestaltet. Denn wenn sich die Notenwerte aus den Zahlenwerten einer Reihe ableiten, ergibt sich der Rhythmus aus der Abfolge von Dauern von selbst." Eine unklare Bemerkung, weil man sich fragt, was mit "gestalten" gemeint sein soll. Dass Messiaen oder dann Boulez nicht gestalten, kann man doch nicht im Ernst behaupten. Sie haben keine gestaltlose Musik geschrieben. Gestaltlose Musik gibt es überhaupt nicht. Niemand hat je versucht, solche zu komponieren. Was will die Bemerkung also sagen? Wahrscheinlich, dass Messiaen und Boulez mathematisch gestalten statt mit hypostasierten "Rhythmusinstrumenten". Aber das sollte eben nicht "irritieren". Musik war immer eine Art Mathematik. Und nie hätten sich die Rhythmen so weit komplizieren können wie bei Boulez, wenn Boulez nicht gerechnet hätte, wenn er stattdessen nur mit dem Schlagzeug experimentiert oder neues erfunden hätte.

Boulez kommt bei Gottstein erst später ins Spiel: "In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg folgten eine Reihe von neuen Kontexten, in denen der Trommelschlag erklang. Pierre Boulez, der das Schlagzeug in 'Marteau sans maitre' 1955 auf eine erstmals in ganzer Konsequenz ausdifferenzierten Weise benutzte, hat nie ein Geheimnis aus seiner Liebe zur indonesischen Musik gemacht. [...] Es ist gerade durch das Schlagzeug ein Universalismus in die Musik gekommen, der viele ideologische Barrieren abbauen half." Das ist wiederum richtig. Aber der Ausdifferenzierung des Schlagzeugs ist die Ausdifferenzierung der Rhythmen in Boulez' ersten Klavierwerken vorausgegangen. Diese hat jene erst ermöglicht, bei Boulez jedenfalls. Nicht nur ermöglicht, sondern auch erzwungen, denn je komplexer ein rhythmischer (sogar rhythmisch polyphoner) Satz ist, desto nötiger wird es, die Rhythmen auf deutlich unterscheidbare Geräusche zu verteilen - und deshalb das Schlagzeug zu vervielfältigen -, damit er von einem Konzertpublikum noch irgendwie mitvollzogen werden kann.

Das Schlagzeug erscheint nach allem als bedeutungsunterscheidendes mehr denn als rhythmisches Instrument. Aus "Rhythmusinstrumenten" besteht das ganze Orchester.

Beiträge zu früheren MaerzMusik- und auch den Berliner "Musikfest"-Festivals können Sie von hier aus aufschlagen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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