Richtig falsch, Adorno

Philosophie Michael Jäger über einen Satz, der ohne Kontext keinen Sinn ergibt
Ausgabe 51/2018

Es gibt kein richtiges Leben im falschen – als ob er für sich allein stünde, wird Theodor W. Adornos Satz zitiert. So aus dem Kontext gerissen, fehlt ihm jede Plausibilität. Lebten Romeo und Julia etwa nicht in der falschen Gesellschaft? Und lebten sie etwa nicht richtig?

Doch der Satz beschließt einen Gedankengang, der sich so schnell nicht abweisen lässt. Er fasst eine Paradoxie zusammen, die Adorno für unauflösbar hält: Privateigentum sei einerseits „rechtlos“ geworden, weil alles im Überfluss vorhanden sei und nur gerecht verteilt zu werden brauchte; andererseits würde man dem Eigentumsfetisch gerade dann erliegen, wenn man nicht wenigstens ein bisschen Privateigentum hätte, auf das man sich stützen kann. Der einzige Weg, das Falsche zu bekämpfen, scheint die Teilhabe am Falschen zu sein.

Der Witz ist, dass sich Romeo und Julia in Adornos Überlegung durchaus spiegeln. Er ist nämlich Kunstphilosoph und misst als solcher die Welt, wie man sie sieht und hört, unmittelbar an der Utopie. Er kann gar nicht anders, da er Kunst hegelianisch als Abbildung des Idealen auf sinnlich wahrnehmbare Objekte begreift. Dabei ist sinnliche Wahrnehmung stets Wahrnehmung von Gegenwart, während das Ideale zukünftig ist, auf die Gegenwart nur „vorscheint“. Doch der Spiegel der Gegenwart ist unvollkommen. Nur ein verzerrtes Abbild der Utopie kann erscheinen. Romeo und Julia leben nicht richtig, allenfalls sterben sie richtig. Ihre verzerrte Veroneser Gegenwart bringt sie um. Und genauso sind Revolutionäre, die in der kapitalistischen Metropole leben, am Hungertod von täglich 25.000 Menschen schuld, einfach weil sie Lebensmittel entgegennehmen, die jenen anderen gefehlt haben.

So zu denken ist aber außerhalb der Kunst ein Irrweg. Denn das wäre ein Weg, den man überspringt, statt ihn zu gehen. Nein, wer die Richtung einhält, zum Ziel, und in ihr einen nächsten Schritt tut, lebt richtig. (Weil „richtig“ von „Richtung“ kommt.) Der nächste Schritt ist der Sturz der kapitalistischen Eigentumsordnung. An ihm wirke ich effektiver mit, wenn ich mein bisschen Privateigentum behalte.

Es gibt auch die inneren Eigentumsverhältnisse. In meinem Denken gehe ich immer von Fragen aus, die falsch sein mögen, die aber meine eigenen sind. Falsche Fragen einer falschen Gesellschaft, die ich verinnerlicht habe. Zum Beispiel, bleibt Deutschland wettbewerbsfähig? Statt zu fragen, ob es einen Weg gibt, auf dem weder Menschen verhungern noch die Erde ökologisch kollabiert. Aber wenn ich offen dafür bin, dass jemand meine falsche Frage zurückweist, mache ich es richtig. Diese Antwort führt zwar nicht schon gleich zur Utopie. Sie führt aber weiter. Deshalb sind Situationen, die mich hindern könnten, richtig zu leben, gar nicht denkbar. Man muss nur fragen und für die Antwort offen sein. Es geht um „Resonanz“, wie Hartmut Rosa schreibt. In der Sprache seines gleichnamigen Buchs bilden intakte und scheiternde Resonanzverhältnisse „die Basis für gelingendes und misslingendes Leben und liefern daher den unhintergehbaren Maßstab für eine Soziologie des guten Lebens“.

Adornos Fehler tritt hervor, wenn wir seine Formulierung sezieren. Genau genommen schreibt er, „dass die Fülle der Konsumgüter potenziell so groß geworden ist, dass kein Individuum mehr das Recht hat, an das Prinzip ihrer Beschränkung sich zu klammern“. In der Tat, und das gilt allgemein: „Sich zu klammern“, ist immer falsch. Deshalb ist aber nicht auch die „Beschränkung“ falsch.

Die eigene Frage ist notwendig beschränkt und muss es auch sein, weil ich sonst für die Antwort unempfindlich wäre, die mich ja gerade auf die Beschränkung stößt. Ich werde dadurch ein Anderer, aber es ist meine Beschränkung, mein Eigentum gewesen. Ich brauchte es, um lernfähig zu sein. Gerade wenn ich auf meine Fragen verzichten würde, was aber gar nicht möglich ist, würde ich falsch leben. Wenn ich sie nur fallweise aufgebe, um neuer eigener Fragen willen, lebe ich richtig.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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