Richtungswinke am Tanker vorbei

Wahlprogramme der Regierungsparteien Selbst New Labour ist kühner als die SPD, und die Grünen agieren wie eine Kirche

Die Wahlprogramme der Regierungsparteien sind natürlich im Geist des "Weiter so!" verfasst - man sei auf dem richtigen Weg, habe einiges erreicht und wolle mehr. Wenn die Grünen das sagen, klingt es hier und da etwas schräg. Ob der Ausstieg aus der Atomenergie schon begonnen hat, wie sie gern glauben möchten, kann sich erst im Nachhinein als richtig oder falsch herausstellen, weil es nur dann richtig wäre, wenn die Union noch mehrere Bundestagswahlen verlieren sollte. Den Einstieg in Auslandseinsätze der Bundeswehr hat es zwar wirklich gegeben und er wird sicher eine Fortsetzung finden, aber das war ein Weg, den sie noch vor vier Jahren gar nicht beschreiten wollten. Auch bei der SPD klingt manches schräg, so wenn sie gleichen Lohn für gleiche Arbeit in West- und Ostdeutschland bis 2007 verspricht: nach der übernächsten Bundestagswahl! Diese kann also nicht zum Tag der Abrechnung werden...
Am schrägsten ist die Sache mit der Ökosteuer. In den Kommentaren zum Parteitag vom vergangenen Wochenende wurde meistens hervorgehoben, die Grünen hätten aus dem Fehler von 1998 gelernt, als sie einen Benzinliterpreis von fünf Mark ankündigten und dafür in der Wählergunst absanken; diesmal wären Zahlen vorsichtshalber nicht genannt worden. Die Sache ist komplizierter. Dass die Grünen keine Steigerungsraten oder Preise vorschlagen, kann man nicht im Ernst kritisieren. Es ist vielmehr sehr vernünftig, wenn sie beschließen: "Bei der Entscheidung über weitere Erhöhungsschritte ab 2004 werden wir die soziale Verträglichkeit insbesondere für Menschen ohne Erwerbseinkommen und die dann geltende Höhe der Energiepreise berücksichtigen." Nein, der Hinweis auf soziale Verträglichkeit arbeitet berechtigte Kritik, die an der Ökosteuer geäußert worden ist, in diese ein. Und wie hoch nach einem Irak-Krieg die Energiepreise sein werden, kann heute wirklich niemand wissen. Wahrscheinlich wird Benzin dann weit mehr kosten als fünf Mark pro Liter. Außerdem sind andere Hinweise um so präziser: "Erneuerbare Energien sowie Busse und Bahnen wollen wir ganz von der Ökosteuer befreien." "Wir wollen, dass auch das produzierende Gewerbe durch geeignete Maßnahmen, wie beispielsweise die Einführung eines Energiemanagements oder einer Energieanalyse, seinen Beitrag zum sparsameren Umgang mit Energie leistet."
Nur: All das sind Rechnungen ohne den Wirt - Richtungswinke am Kapitän des Tankers SPD vorbei. Deren Wahlprogramm-Entwurf, der seit Ende April in den Parteigliederungen kursiert, schließt nämlich eine Erhöhung der Ökosteuer nach 2003 kategorisch aus. Die Grünen wissen das natürlich. Diese Konstellation ist charakteristisch für ihre Art, auf "2002 bis 2006" mit einem "Vierjahresprogramm", so nennen sie stolz das geduldige Wahlpapier, zu orientieren. Zweifel an der Gewissheit, überhaupt der nächsten Bundesregierung anzugehören, sind gleichsam egal, da sie ja auch mit drei Ministerien nichts durchsetzen, was die SPD nicht ohnehin will. Das "Vierjahresprogramm" zeigt weder den Weg der nächsten vier Jahre, noch enthält es nur vordergründige Wahlkampfhits. Es ist eher eine Art Heilsgeschichte. Als solche liest es sich sehr gut. Die Wertung der FAZ, die Grünen hätten sich endlich entschieden, Partei "einiger Spezialthemen" zu sein, ist nicht überzeugend. Gewiss: "Seite für Seite wird jedes Thema daraufhin abgeklopft, wie es mit der Ökologie in Einklang zu bringen sei." Aber der ökologische Umbau der Gesellschaft ist kein Spezialthema. Und die Grünen können immer konkreter angeben, worin er bestünde. Nur die Machtfrage klammern sie leider aus. Dieses Programm scheint darauf angelegt, dass andere Parteien es sich zu eigen machen sollen. Sie agieren wie die Kirche unter Kaiser Konstantin. Ihr Spitzenkandidat Fischer gleicht einem Bischof, der gegen die Heiden keift (Union, FDP), während der Kaiserhof (SPD) nicht unter Druck gesetzt, aber doch waffenlos-brüderlich ermahnt werden kann. Zu dieser politiktranszendenten Haltung passt, was einen sonst anwidern müsste: die hippe Fröhlichkeit der Führungsriege inmitten einer schaurigen Welt. Wie sie sich am Ende ihrer Parteitage selbst bejubeln, sind sie so high, dass nur noch das Anstimmen von Gospelsongs fehlt.
Die Abgrenzung zur SPD ist immerhin gut erkennbar. Nicht nur die Unionsparteien, auch die Grünen wollen die Steuerfreiheit für Veräußerungsgewinne aus Beteiligungsverkäufen teilweise rückgängig machen. Dafür müsste es also im Bundestag eine breite Mehrheit geben. Subventionen im Bereich Steinkohle und intensive Landwirtschaft sollen abgebaut werden. Der Transrapid wird weiter abgelehnt. Für Arbeitslose soll es keine schärferen Sanktionen geben. Schon Anfang April sah sich Gesundheitsministerin Ulla Schmidt, SPD, zum öffentlichen Protest herausgefordert, weil die Grünen vorschlugen, die Bemessungsgrenze in der gesetzlichen Krankenversicherung anzuheben.
Vom Programmentwurf der SPD erwartet man, dass er die Politik des Kanzlers in die Zukunft hinein verlängert, und so verhält es sich auch. Ausgeglichener Bundeshaushalt bis 2006, "Angebot für Ausbildung und Beschäftigung", schrittweise Erhöhung des Kindergelds - das kennt man schon, und die Union wird nicht widersprechen. Aber sogar dieser Entwurf hat Konturen. Er enthält eine Koalitionsaussage zugunsten von Rot-Grün. Mit dem Programm der Grünen stimmen die Genossen zum Beispiel darin überein, dass es bei der Verzahnung von Arbeitslosen- und Sozialhilfe keine Leistungsabsenkung geben soll. Das wurde gegen das Votum der Ministerpräsidenten Clement und Gabriel beschlossen. Oder darin, dass Bundeswehreinsätze an ein UNO-Mandat gebunden werden. In solchen Fragen macht es einen Unterschied, ob man Rot-Grün oder Union-FDP wählt. Anders verhält es sich bei der Wehrpflicht: SPD und Union halten an ihr fest, Grüne und FDP wollen sie abschaffen. Doch all das wird nicht wahlentscheidend sein. Die Chancen der SPD an ihrem Wahlprogramm zu messen, macht wenig Sinn. Für den SPD-Kanzler ist anderes wichtiger, zum Beispiel ob seine Partei sich rechtzeitig von der Kölner Korruptionsaffäre erholt oder wie sich die Krise um den Medienunternehmer Kirch weiter entwickelt. Gegenwärtig wird Gerhard Schröder den Arbeitskampf in der Metallindustrie besorgt verfolgen. Hier geht es ja eigentlich um die Scherben seines Wahlkampfhits von 1998, des Bündnisses für Arbeit.
Das Programm der führenden Regierungspartei misst man am besten an den Bestrebungen anderer sozialdemokratischer Regierungsparteien in der EU. Da fällt unverändert auf, dass Schröders SPD dem neoliberalen Zeitgeist die größten Zugeständnisse macht. Sogar Tony Blairs New Labour Party ist weniger anpassungsbereit. Im April ging sie davon ab, mit den Konservativen um immer geringere Steuern zu wetteifern - ihr Finanzminister Gordon Brown kündigte vielmehr eine Erhöhung der Bürgerabgaben um drei Prozent an, damit das Gesundheitssystem saniert werden kann. Das ist nur der Anfang: Bis 2022 würden die Gesundheitskosten auf das Dreifache gestiegen sein, liest man in einem Bericht, den Brown gleichzeitig verbreitete. Man stelle sich vor, Grüne und SPD äußerten sich so über die Perspektive der Ökosteuer. New Labour hat vielleicht schon begriffen, was deutsche Koalitionäre immer noch verdrängen: dass es zu Wahlniederlagen führt, wenn man die Regierungsmacht nur erringt, um die Wirtschaftspolitik des politischen Gegners auszuführen.
Selbst ein Mann wie Jospin war den Franzosen nicht entschieden genug. Er hätte ja im ersten Wahlgang der Präsidentschaftswahl weit vorn gelegen, hätten nicht zehn Prozent der Wähler lieber für trotzkistische Kandidaten votiert. Wie radikal war dennoch sein Wahlprogramm, verglichen mit dem der SPD. Die EU sollte eine Wirtschaftsregierung als Gegengewicht zur Europäischen Zentralbank erhalten. Eigentlich ist das gar keine radikale Idee, sondern entspricht nur US-amerikanischen Verhältnissen. Aber das muss mal einer laut sagen. Jospin wollte auch einen europäischen Sozialvertrag. Er tritt nun zur Parlamentswahl im Juni gar nicht mehr an. Gerhard Schröder dagegen hat jetzt seine frühere Aussage korrigiert, spätestens 2006 wolle er zurücktreten. Was lange währt, wird endlich gut? Mit "Weiter so!" ist es nicht zu erhoffen.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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