Roll over Hexameter

Literatur Vor 250 Jahren kam Hölderlin zur Welt. Jürgen Link erkundet die musikalischen Strukturen seiner Werke
Ausgabe 13/2020
Friedrich Hölderlin (1770 bis 1843)
Friedrich Hölderlin (1770 bis 1843)

Foto: Schöning/Imago Images

Das ist wie Musik – so drängt es sich dem Leser auf, der die Verse des vor 250 Jahren geborenen Lyrikers liest, doch wird er nur eine Metapher darin sehen. Zu zeigen, dass Hölderlins Gedichte buchstäblich komponiert sind, polyphon und mit Phrasenbögen, Stauungen, Zäsuren und anderen musikalischen Verfahren, ist eins der Hauptanliegen der Studie des Literaturwissenschaftlers Jürgen Link. Den Hexameter zum Beispiel kann der Dichter gegen den Strich aufbürsten, durch Risse, wo man sie nicht erwartet, und Nebenakzente („Akzentakkumulation“): „Drúm! // und spótten des Spótts màg gérn fròhlókkender Wáhnsìnn“; klingt das nicht ganz anders als bei Johann Heinrich Voß, dem zwei Jahrzehnte älteren Übersetzer von Homers Odyssee: „Dessen gedacht’ er jetzo, und sprach die geflügelten Worte“? Es ist wie Beethoven im Verhältnis zum Operettenwalzer. Genauso der Pentameter, aus derselben Elegie Brod und Wein von Hölderlin: „Áufzubréchen. // Sò kómm! dáß wir das Óffene scháuen“ – der Zusammenstoß zweier Hebungen in der Mitte des Verses, der zum pentametrischen Schema gehört, wird überboten von der krassen Zäsur, die nicht etwa nur hingeschrieben ist, als Punkt und Anfang des neuen Satzes, sondern zur rhythmischen Ekstase wird: So! Komm! Dass! Man könnte auch hier, wie Link es anderswo tut, von einem „Schicksalsmotiv“ wie in Beethovens fünfter Symphonie sprechen.

„Das Offene“ wird nicht nur einmal von Hölderlin evoziert, dem Sinn nach spricht er überall davon. Es ist seine „Fluchtlinie“, wie Link mit dem Begriff von Gilles Deleuze und Félix Guattari formuliert. In deren „Schizo-Analyse“ erscheint sie, so Link, „zunächst als Phantasie und Praxis des Entweichens aus einem despotisch-paranoiden geschlossenen System von Zeichen“, um dann als „Weg einer realen befreienden Flucht“ wie auch als „(wenn man will: utopische) perspektivische Aussicht auf einen unbekannten freien Raum“ entworfen zu werden. Wenn Hölderlin, wie im Buchtitel zu lesen, eine „Fluchtlinie Griechenland“ entwirft, hat er nicht nur die Antike im Auge, aus der er freilich die Versmaße bezieht, sondern denkt auch an Neugriechenland, das sich mit dem zeitgenössischen Deutschland nur allzu gut vergleichen ließ, denn wie dieses nicht republikanisch befreit war wie das benachbarte Frankreich, stand jenes unter der Fremdherrschaft der osmanischen Despotie.

Nie nach Griechenland

So handelt der Roman Hyperion von einem Neugriechen, der nicht nur beim Versuch scheitert, eine Revolution gegen die Osmanen loszutreten, sondern sich zeitweilig auch in Deutschland aufhält und dort in die berühmte Schelte ausbricht: „Handwerker siehst du, aber keine Menschen, Denker, aber keine Menschen“ – er erlebt die Arbeitsteilung der sich anbahnenden Konkurrenzgesellschaft als Gefängnis. Und doch kann auch Neugriechenland zur Fluchtlinie gehören, weil es die alte, so begeisternde Natur noch hat: „Festlicher Boden! Der Boden ist Meer! Und Tische die Berge / Wahrlich zu einzigem Brauche vor Alters gebaut!“ (Brod und Wein)

Hölderlin selbst konnte nie nach Griechenland reisen, doch in Südfrankreich ist er gewesen, die Provence war sein „Olivenland“, und nicht nur ersatzweise. Wie Link rekonstruiert (mit Jean-Pierre Lefebvre), ist er im Winter 1801 auf 1802 nach Lyon gewandert, um dort seinen „Halbgott“ Napoleon zu sehen, der damals, noch als Erster Konsul der französischen Republik, einer Versammlung seiner italienischen Satelliten präsidierte. Die zentrale Bedeutung Napoleons für Hölderlins Dichtung herauszuarbeiten, ist für Link ein zweites Hauptanliegen. Als er in die Hölderlinforschung eingestiegen war, war es noch darum gegangen, die Französische Revolution als politische Heimat des Dichters herauszuarbeiten, gegen Heidegger und die Nazi-Rezeption. Jetzt aber zeigt er, wie es Hölderlin auch um den selbst erlebten politischen Kairos ging. Es scheint, dass er zum neuen Pindar seines „Halbgotts“ werden wollte, jedenfalls bis dieser sich 1804 zum Kaiser gekrönt hatte und damit die republikanischen Ideale verriet. Pindar, der um 520 vor Christus nahe Theben geborene Lyriker, hatte Preislieder auf die Sieger aristokratischer Wagenrennen geschrieben, hatte auch deren angebliche mythischen Vorfahren gerühmt und war nicht faul, auch selbst neue Mythen zu erfinden.

Dichte Analysen

An all dem orientiert sich Hölderlin: macht sich den freien Stil der Preislieder zu eigen („Vaterländische Gesänge“), führt Napoleon auf Herakles zurück und erfindet eine „Wanderung“ der alten Germanen zum Kaukasos. Dort „unter dem Ölbaum“ hätten sie „mit Kindern der Sonn“ die antiken Griechen gezeugt. „Wo aber wohnt ihr, liebe Verwandten, / Dass wir das Bündnis wiederbegehn / Und der teuern Ahnen gedenken?“

So viele Ebenen schichtet Hölderlin übereinander: die Mythen, die Natur, auch die in beiden enthaltene Religion, also den griechischen Polytheismus, den Hölderlin in das spinozistische „deus sive natura“ übersetzt, dann die alte und neue Geschichte, die Politik nach 1789 und nach 1800, und natürlich spricht auch seine Biografie aus seinen Gedichten. Link sieht auch hier ein musikalisches Verfahren, spricht von „‚Isotopien‘ im Sinne des Semiotikers Algirdas Greimas“, das sind „die einzelnen ‚Fäden‘ im ‚Gewebe‘ des Textes“, und ergänzt, „dass jede poetische Sprache, insbesondere aber die Hölderlins, polyisotopisch (in musikalischer Analogie mehrstimmig) strukturiert ist“. Nur einen kleinen Ausschnitt von Links Analysen konnte ich würdigen, sie sind oft so dicht, dass es Arbeit ist, sie zu lesen, doch man wird reich belohnt.

Info

Hölderlins Fluchtlinie Griechenland Jürgen Link Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 2020, 272 S., 40 €

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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