Gegenelite Immer größere Teile der Öffentlichkeit stehen mit dem Staat auf Kriegsfuß. Der Protest der Bürger kann da erstaunlich wirksam sein - wenn er sich lokal organisiert
Zum Protest in Deutschland gibt es viele Anlässe, und sie bleiben nicht unbemerkt. Die letzte Bürgerwut galt der Schließung des Hauptbahnhofs der Landeshauptstadt Mainz in den Abend- und Nachtstunden wegen Personalmangels bei der Bahn. Doch dieser Fall zeigt eine Besonderheit: Hier funktionieren noch die traditionellen Protestkanäle. Da machen Landräte, Bürgermeister und Verkehrsdezernenten ihrem Ärger Luft, der Fahrgastverband Pro Bahn tritt in Erscheinung, und die Medien berichten sozusagen freiwillig – sie brauchen nicht erst durch Demonstranten und Bürgerinitiativen angestoßen zu werden. Hier nimmt „die Öffentlichkeit“ gemeinsam mit „Volksvertretern“ ihre Wächterrolle wahr, wie es in den Lehrbüche
chern steht. Der Anlass ist aber auch dermaßen grotesk, dass sie nicht gerade überfordert war.Was den Fall mit anderen Protestfällen wie Gorleben, Stuttgart 21, unterirdischer CO2-Speicherung oder dem Widerstand gegen neue Stromtrassen verbindet, ist der große Zuschnitt technischer Probleme, die nicht leicht zu beherrschen sind, besonders wenn noch Profitinteressen im Spiel sind, die eine Einschränkung des Aktionsfelds der Techniker oder ihrer puren Anzahl zur Folge haben.Beim Mainzer Hauptbahnhof kommt allerdings hinzu, dass Staat und Gesellschaft über dessen Sinn und die erforderliche Technik nicht verschieden denken. Bei den anderen genannten Fällen sind das Projekt oder seine Technik oder beides umstritten. Bürger stimmen der staatlichen Planung nicht zu, oft findet man, dass sie ein generelles Misstrauen gegen staatliche Planungen entwickelt haben. Oder genauer gesagt, gegen das verdeckte Zusammenspiel staatlicher Planer mit privaten Profitstrategen. Es ist ja berechtigt genug, wenn man nur bedenkt, dass es dieselbe Deutsche Bahn ist – ein Unternehmen im Staatsbesitz, das mit staatlicher Billigung als privates agiert –, die im Mainzer Skandal der peinlichsten Unfähigkeit überführt ist, nachdem man im Streit um das Projekt Stuttgart 21 ihr göttergleiches Wissen und Können bewundern sollte.Immer größere Teile der Öffentlichkeit stehen mit dem Staat auf Kriegsfuß; nicht nur mit den Administrationen, sondern auch mit den Parteien, die schon lange nicht mehr als Ansprechpartner des Protests gelten. Hierbei macht vielleicht die Linkspartei und machen auf jeden Fall die Piraten eine Ausnahme. Die Piraten sind zwar eine Partei, doch haben sie mit anderen Protestlern gemeinsam, dass ihr Hauptimpuls der Kampf gegen einen gewissen Umgang mit einer Großanlage, in ihrem Fall des Internets, und mit deren technischen Bedingungen ist. Das Internet macht aber selbst eine Ausnahme als Anlage, die nicht lokal stationiert ist.Typischerweise konstituiert sich die neue Öffentlichkeit des Protests lokal, auch wenn der Anlass übergreifend ist wie im Fall der neuen Stromtrassen, die im Kontext der „Energiewende“ gebaut werden sollen. Darin unterscheidet sie sich auch von den „neuen sozialen Bewegungen“ der siebziger und achtziger Jahre wie der Frauen- oder Friedensbewegung. Das war damals schon eine neue Öffentlichkeit, die sich kaum noch parteipolitisch instrumentalisieren ließ. Sie agierte aber noch übergreifend wie die Parteien. Von denen unterschied sie sich, weil die Bewegungen sich um einzelne Themen gruppierten. Damit hing zusammen, dass ihre Mobilisierungskraft nach einiger Zeit auslief. Solche Themen waren aber nicht an Lokalitäten gebunden. Wenn Hunderttausende gegen die Stationierung von Pershing-Raketen demonstrierten, konnten sie gar nicht wissen, wo das geschehen würde.Über den neuen lokalen Protest unserer Tage sind zuletzt zwei Bücher erschienen, Die neue Macht der Bürger von Franz Walter und anderen (Reinbek 2013) und Veränderung durch Wissen von Klaus Töpfer und anderen (München 2013). Dass Wissen eine neue herausragende Rolle spielt, wird in beiden Büchern hervorgehoben. Die Bürger vor Ort sind mit einer konkreten Anlage konfrontiert, es bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als sich im Widerstand zu Experten auszubilden. Damit hängt zusammen, dass eher Ingenieure als, wie früher, universalistische Intellektuelle den Ton angeben. Und überhaupt dass nicht mehr nur Studierende protestieren, sondern alle Stände und Altersgruppen, wobei der Mittelstand, der früher alles andere als protestwütig war, besonders ins Auge fällt. Aber eben weil das so ist, kann geradezu von einer Rückkehr „der“ Öffentlichkeit gesprochen werden. Denn ein Querschnitt von Bürgern, die nicht bloß leiden und fordern, sondern sich auch sachkundig machen, nimmt es mit Parteien und Verbänden, den tradierten politischen Formen, durchaus auf. Auf diesem Weg kann sich eine Gegenelite herausbilden.Der Staat verteidigt natürlich seine undemokratisch ausgeübte Entscheidungskompetenz in Sachen technischer Großprojekte. Er gibt Studien in Auftrag, die zeigen sollen, wie man die Bürger von dem, was sie künftig ertragen sollen, geduldig überzeugen kann. „Akzeptanzforschung“ wird das dann genannt. Man versucht sie einzubinden, indem man ihnen mehr Rechte gibt, keineswegs aber die Entscheidungskompetenz mit ihnen teilt. Ihre Antwort könnte darin bestehen, dass sie sich zum überlokalen und themenübergreifenden Widerstand zusammenschließen.
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