Zwei vor zwölf

Atomabkommen Die Aufkündigung des INF-Vertrags beschwört die real erfahrbare Atomkriegsgefahr der 1980er Jahre wieder herauf
Ausgabe 06/2019
Chinesische Militärparade zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs
Chinesische Militärparade zum 70. Jahrestag des Endes des Zweiten Weltkriegs

Foto: Andy Wong/Getty Images

Die Weltuntergangsuhr steht zwei Minuten vor Mitternacht. Das hat aktuell das Bulletin of the Atomic Scientists mitgeteilt. Der offensichtliche Grund ist die Kündigung des INF-Vertrags, erst durch die USA, dann durch Russland. Im INF-Vertrag hatten sich beide verpflichtet, keine landgestützten atomaren Mittelstreckenraketen zu entwickeln. Das wirft Fragen auf: aus welchem Grund die Kündigung erfolgte, ob sie den USA oder Russland vorzuwerfen ist und ob der Vertrag sich trotzdem noch retten lässt.

Nun sieht man schnell, dass sich ein Rettungsweg nicht abzeichnet. Die neue nukleare Aufrüstungsspirale scheint gewiss. Und mit ihr die Gefahr der Katastrophe, die schon durch puren Zufall ausgelöst werden kann. Wenn Atomkraftwerke letztlich nicht beherrschbar sind, ist es die nukleare Aufrüstung noch viel weniger. Es bleibt die Frage, ob gegen sie etwas getan werden kann.

Zu dem Schluss, dass sich der Vertrag nicht retten lässt, führt die Frage nach dem Grund der Kündigung. Der liegt nämlich nicht in der angeblichen russischen Vertragsverletzung. Nein, der Grund ist China. Sogar der CDU-Verteidigungspolitiker Roderich Kiesewetter ahnt es: „Chinas Raketensystem umfasst etwa drei Viertel INF-relevante Raketen, des Weiteren sind Indien und Pakistan in den Besitz solcher Waffen gelangt.“ Diese Waffen werden vom INF-Vertrag nicht erfasst, die USA sehen aber vor allem in China eine Gefahr für ihre hegemoniale Stellung im kapitalistischen Staatensystem. Schon heute ist klar, dass sie ihre führende Rolle auf dem Weltmarkt verlieren werden. Gegen China können sie nur aufrüsten, wenn ihnen der mit Russland geschlossene Vertrag nicht mehr die Hände bindet. Russland ist der Sack, den man schlägt, weil der Esel – besser: der Drache – gemeint ist.

Mit den gegen Russland gerichteten Vorwürfen wird man schnell fertig, auch wenn hierzulande oft geschrieben wird, die Schuldfrage lasse sich nicht klären. Aber warum weigern sich die USA, die angeblich vertragsverletzende Rakete vor Ort zu inspizieren, wie Russland das angeboten hat? Wenn man anschaut, wie sie auf dem Boden steht, weiß man noch nicht, wie weit sie fliegen kann, so ihr Argument. In Wahrheit wäre diese Abschätzung durch Experten sehr wohl möglich, sagt der Verifikationsexperte Wolfgang Richter. Mit dem „Argument“ setzen die USA einen bloßen Verdacht in die Welt, legen aber keine Beweise vor.

Die Kündigung des Vertrags wird die Beziehungen zwischen Russland und den USA nicht wesentlich verändern. Jene seegestützten Systeme, die von beiden Seiten im Syrienkrieg eingesetzt worden sind, unterlagen ihm ohnehin nicht. Interessant ist hingegen die Beobachtung, dass sich die ganze westliche Propaganda immer noch gegen Russland richtet, kaum schon gegen China. Die USA wollen wohl erst einmal militärische Stärke gegen dieses Land aufbauen, bevor dann auch der Propagandakrieg entfesselt werden kann. Aus diesem Grund ist es leider unwahrscheinlich, dass sich jetzt schon nennenswerter Widerstand von unten gegen die Aufrüstung regen könnte. Dazu bedarf es der real erfahrbaren Atomkriegsgefahr wie Anfang der 1980er Jahre. In welcher Konstellation sie sich diesmal abzeichnen wird, ist noch nicht absehbar.

Im Moment hängt viel von der Vernunft wenigstens eines Teils der politischen Klasse ab. Außenminister Heiko Maas (SPD) schließt die Stationierung neuer Atomwaffen auf deutschem Boden aus, unterstützt aber ansonsten die US-amerikanische Position. Das ist bei Weitem nicht genug.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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