Santa Precaria

Bratwurst und rote Nelke Am 1. Mai lässt sich der Stand der Arbeiterbewegung besichtigen. Der DGB hat die strategische Bedeutung des Symbolischen noch nicht begriffen. Dabei wäre es so einfach

Wird die klassische Maikundgebung obsolet? Sie scheint Gegner zu haben, die immer mächtiger werden: einmal die „Individualisierung“ mit ihrer Unlust an Kollektivaktionen, also auch an Demonstrationen, und zum andern die Gegenveranstaltungen. Doch sind das wirklich Gegner?

Für Verdruss sorgen sie allemal: Wegen der „Individualisierung“ nimmt die Teilnehmerzahl ab, und die Gegenveranstaltungen signalisieren eine Spaltung des Protests. Dennoch täuscht das Bild. Es hat immer Gegenveranstaltungen gegeben, die ganze Geschichte des 1. Mai hindurch. Wenn es eine „klassische“ Form der Kundgebung gibt, dann gehören sie dazu. Sozialdemokraten und Kommunisten marschierten schon in der Weimarer Republik getrennt. So war eben der Stand der Arbeiterbewegung, an jedem 1. Mai konnte und kann man ihn besichtigen. Und was waren denn die Ökologen, die Feministinnen, wenn sie seit den siebziger Jahren hier und da autonom demonstrierten? Lebten nicht die meisten von Geld aus abhängiger Arbeit? Gehörten sie also nicht auch zur Arbeiterklasse?

Mairevue und Milchprotest

Dass es auf allen Seiten um die Manifestation der Arbeit geht, wird bei den Gegenveranstaltungen, die es heute gibt, besonders deutlich. Ein „EuroMayDay“ wird seit einigen Jahren in immer mehr europäischen Städten veranstaltet. Die hier zusammenkommen, definieren sich als das neue „Prekariat“. Sie fühlen sich offenbar von den Gewerkschaften nicht hinreichend vertreten.

Oft hat auf den Gegenveranstaltungen die symbolische Form des Demonstrierens eine große Rolle gespielt. Das wird beim EuroMayDay besonders deutlich, denn hier werden „San Precario“ und „Santa Precaria“ als Schutzheilige mitgeführt. Die Idee ist auch deshalb witzig, weil die Römische Kirche längst vorher versucht hatte, den 1. Mai als Tag des heiligen Joseph für sich zu vereinnahmen, des Vaters Jesu, der Zimmermann war und deshalb zum Schutzpatron der Arbeit gemacht werden konnte. Der DGB steht solchen Formen gar nicht absolut fremd gegenüber. Er war immerhin schon vor Jahrzehnten auf den Gedanken gekommen, seine Demonstration mit einer „Mairevue“ zu garnieren, die zeitweise sogar das Fernsehen mitschnitt. Aber so richtig hat er die strategische Bedeutung des Symbolischen doch nicht begriffen.

Sie reicht so weit, dass das gängige Schema, Gewerkschaftsführerrede plus stumm oder pfeifend zuhörendes Publikum, durch Symbole vollständig ersetzt werden könnte. Um das zu begreifen, bräuchte der DGB nicht einmal von den ständig neuen Wellen des Jugendprotests zu lernen. Es würde reichen, einen Blick auf den monoton wiederkehrenden Bauernprotest zu werfen. Da werden ja, wie wir bis zum Überdruss wissen, keine Reden gehalten, sondern Milchbeutel ausgeschüttet und Kühe herumgeführt. Wie wirksam das immer wieder ist, obwohl der Fantasiepegel dieser Bilder gegen Null geht! Solchen Veranstaltungen fehlt nichts, was zum Begriff einer Manifestation gehört: Man kommuniziert mit der nicht teilnehmenden Öffentlichkeit, und die Botschaft kommt an, wird vom Fernsehen verbreitet.

Besonders bemerkenswert ist aber, dass es gelingt, obwohl stets nur winzige Bauernhäuflein demonstrieren. In das vereinigte Deutschland hatte die Bundesrepublik nur 780.000 Bauernhöfe eingebracht, der Anteil der in der Landwirtschaft Beschäftigten lag bei 3 Prozent, der Beitrag zum Bruttosozialprodukt bei 1,5 Prozent. Gleichwohl sind sie bis heute eine Macht wegen der quasi mütterlichen Symbolik, die wir alle mit dem „Nährstand“ verbinden.

Durch fantasiereiche Symbolik lassen sich auch „individualisierte“ Menschen zur Demonstration reizen. Nicht Hunderttausende vielleicht, aber hinreichend viele. Der DGB mag Probleme mit dem 1. Mai haben. Doch von einem Problem des Teilnehmerschwunds zu sprechen, wäre verfehlt.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

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