Schuldlose Kunst

Musikfest 2017 Hans Pfitzner verkörpert sich in Palestrina, steht aber in Monteverdis Nachfolge. Nach der Logik dieser Verkörperung müsste er Schönberg akzeptieren, tut es aber nicht

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Der Dirigent Marek Janowski
Der Dirigent Marek Janowski

Foto: Presse

Das Konzert gestern Abend, in dem Pfitzner und Bruckner gegeben wurden, habe ich hauptsächlich deshalb hören wollen, weil Marek Janowski am Pult stand, er dirigierte die Berliner Philharmoniker. Ich bin von seinen Einspielungen und Aufführungen beeindruckt. Er „gilt weltweit als herausragender Beethoven-, Schumann-, Brahms-, Bruckner- und Strauss-Dirigent, aber auch als Fachmann für das französische Repertoire“, heißt es im Programmheft. Ich bin auch etwa für seine Gesamteinspielung der Symphonien von Henze dankbar. Und auch wenn er Humperdings Hänsel und Gretel konzertant aufführt, wie letztes Jahr über Weihnachten, ist es ein Genuß ihm zuzuhören.

Im Rahmen des diesjährigen Musikfests war es passend, die drei Orchestervorspiele aus der Oper Palestrina von Hans Pfitzner zu spielen, weil sie in die Zeit Monteverdis zurückgreift; ich habe es in einem früheren Eintrag schon erwähnt. Die Oper beginnt damit, dass ein Schüler des noch im polyphon-kontrapunktischen Stil komponierenden Palestrina eine Weise à la Monteverdi erklingen lässt, sich deshalb mit dem Sohn des Meisters auseinandersetzt und die Weise wiederholt, ausgerechnet als der Kardinal Borromeo, den die neuen Klänge empören, Palestrinas Haus betritt. Borromeo bittet den Meister, der schon aufgehört hat zu komponieren, es noch einmal zu tun, um die alte Musik zu verteidigen; im gerade laufenden Konzil von Trient, dem Konzil der Gegenreformation, wird nämlich erwogen, sie aus den Kirchen zu verbannen, weil das gesungene Wort in ihr untergehe. Palestrina will nicht, es kommt zum Streit, der Kardinal verlässt wütend das Haus, dann aber erscheinen dem Meister in einer Vision seine Vorgänger, die ihn beschwören, „den Schlussstein zum Gebäude“ der alten Musik „zu fügen“; dazu müsse er „bereit“ sein, denn das sei „der Sinn der Zeit“. Wie man später erfährt, versucht ihn der Kardinal zu zwingen, er wird ins Gefängnis geworfen und Folter wird ihm angedroht, doch da ist er längst der Aufforderung der Vorgänger gefolgt und hat die Missa Papae Marcelli geschrieben, die in Pfitzners Oper denn auch zitiert wird. Sie überzeugt den Papst und das Musikverbot kann abgewendet werden.

Die Erzählung ist in dieser Form Legende, trifft aber gut die Verhältnisse der damaligen Zeit. Pfitzner, der das Libretto selbst geschrieben hat, kann in ihrem Rahmen auf historische Einzelheiten wie die Rolle der Florentiner Camerata und den Beitrag Vincenzo Galileis, des Vaters von Galileo Galilei, anspielen: „Nun haben Dilettanten in Florenz“, lässt er Palestrina sagen, „Aus heidnischen, antiken Schriften / Sich Theorien künstlich ausgedacht, / Nach denen wird fortan Musik gemacht. / Und Silla drängt begeistert sich zu jenen“ – das ist der Schüler, der sich in Monteverdi-Melodien versucht -, „Und denkt und lebt nur in den neuen Tönen. / Vielleicht wohl hat er recht! Wer kann es wissen, / Ob jetzt die Welt nicht ungeahnte Wege geht, / Und was uns ewig schien, nicht wie im Wind verweht? –“

Pfitzner wäre auf diesen Stoff nicht verfallen, wenn er nicht seine eigene Situation in ihm widergespiegelt gefunden hätte. Und da ist es schon bemerkenswert, wie er ihn wendet. Wenn er selbst sich in Palestrinas Rolle sieht, dann wären Busoni und Schönberg die Entsprechungen für Galilei und Monteverdi. Gegen jene hat er aber in wüstester Weise polemisiert, hat an Schönberg seinen Antisemitismus ausgelassen und bewegte sich in einer NS-Kultur, die keineswegs gewillt war, die Neue Musik neben der alten zu tolerieren. Wenngleich er aber, auf der Ebene der Opern-Metaphorik, sich in Palestrinas Rolle sieht, steht er doch real am Ende der von Monteverdi eingeläuteten Zeit und könnte allenfalls in dieser „den Schlussstein setzen“; und weiter, wenn das zu den impliziten Bedeutungen der Oper gehört: Ich, der ich in der Monteverdi-Nachfolge stehe, erkenne an, dass die Vor-Monteverdi-Musik ihr ebenso volles Recht hatte, dann gehört auch das Umgekehrte dazu, dass wenn Monteverdi so berechtigt ist wie Palestrina, dann auch Schönberg so sehr wie Pfitzner. Es läge also eine Rechtfertigung der Schönberg-Musik, ja eine freiwillige Abdankung Pfitzners vor ihr durch Pfitzner selbst darin, die diesem Mann in seiner dokumentierten Politik und polemischen Literatur ganz fern gelegen hat.

Man muss aber noch den springenden Punkt bei der Homologie „Monteverdi (= Pfitzner real) verhält sich zu Palestrina (= Pfitzner in der Opernmetaphorik) wie Schönberg zu Pfitzner“ unterstreichen. Der springende Punkt ist, dass nicht nur die musikalische Entwicklung weitergeht und also neben Älteres das Neuere tritt, sondern dass vom Neuen eine Vernichtungsgefahr für das alte ausgeht. Gerade das unterstreicht Pfitzner, indem er den Konzilsstoff auswählt, und tut es in bezeichnend komplexer Weise: Dieselbe Kirche, die das Existenzrecht der alten polyphonen Musik bedroht, wendet sich auch gegen die neue Monteverdi-Musik, die das Alte ebenfalls bedroht, wenn auch nicht administrativ durch Verbote („Wer kann es wissen, / Ob [...] was uns ewig schien, nicht wie im Wind verweht?“). Was Pfitzner real vor Augen hatte, war dass von der Publizistik der Schönberg-Partei wie auch des Futurismus (Busoni wird zu dessen Ideengebern gezählt) das Existenzrecht der tonalen Musik beziehungsweise der älteren Kunst überhaupt, das heißt ihrer Fortsetzung bestritten wurde, weil sie dem musikalischen „Materialstand“ nicht mehr entspreche (was den Futurismus angeht, denke man an Marinetti, „Ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake“). Hätte Pfitzner auch dann gegen Schönberg und Busoni gewütet, wenn das nicht der Fall gewesen wäre?

Mir fallen dazu Sätze Carl Schmitts, des Nazi-Kronjuristen, ein: Marx habe den Beweis erbringen wollen, dass die Bourgeoisie „der Geschichte angehört und erledigt ist, ein Stadium der Entwicklung darstellt, welches der Geist bewusst überwunden hat. [...] Hier liegt das tiefste Motiv des dämonischen Fleißes, mit dem Marx in die ökonomischen Fragen hineindrang.“ Das hat er nach der Oktoberrevolution geschrieben, während die Oper Palestrina kurz vorher (1915) entstand. Auch Pfitzners Polemik gegen die atonale Musik wurden nach der Oktoberrevolution geschrieben (Die neue Ästhetik der musikalischen Impotenz, München 1919; Futuristengefahr schon 1917). Man muss auch Hannah Arendt in diesem Zusammenhang zitieren: Sie fand es offensichtlich, "dass die bolschewistische Propaganda, die aus der Doktrin der 'absterbenden Klassen' die Drohung entwickelt hat, dass, wer den Zug der Geschichte verpasst, eine Art lebendiger Leichnam sei, den Mord [...] vorbereitet [...]. Die Bolschewiken lassen angeblich nur die Millionen in Arbeitslagern verrecken, die vorher bereits 'abgestorben' waren [...]." Wer sich zu den „Abgestorbenen“ rechnen muss, sei’s in der Basis oder im Überbau, wird entsprechend aggressiv reagieren.

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Noch einen anderen Zug möchte ich an Pfitzners Oper hervorheben. Er hat ihr ein Schopenhauer-Zitat als Motto vorangestellt: Das „rein intellektuelle Leben der Menschheit besteht in ihrer fortschreitenden Erkenntnis mittelst der Wissenschaften, und in der Vervollkommnung der Künste, welche Beide, Menschenalter und Jahrhunderte hindurch, sich langsam fortsetzen, und zu denen ihren Beitrag liefernd, die einzelnen Geschlechter vorübereilen. Dieses intellektuelle Leben schwebt, wie eine ätherische Zugabe, ein sich aus der Gährung entwickelnder wohlriechender Duft über dem weltlichen Treiben, dem eigentlich realen, vom Willen geführten Leben der Völker, und neben der Weltgeschichte geht schuldlos und nicht blutbefleckt die Geschichte der Philosophie, der Wissenschaft und der Künste.“

Dieses Getrenntsein von „schuldloser“ Kunst und „blutbeflecktem“ Realleben der Völker hat Pfitzner in der Oper nicht zuletzt darstellen wollen. Sie hat deshalb den krassen Aufbau, dass der erste und dritte Akt in Palestrinas Haus spielt, während der zweite, in dem Palestrina gar nicht auftritt, nur tumultuarische Konzilsszenen auf die Bühne bringt. Entsprechend ist die Musik komponiert und wenn man wie Janowski nur die drei Vorspiele bringt, kommt ein musikalisches Triptychon aus still-introvertierter, laut-extravertierter und wieder stiller Musik zustande. Es anzuhören lohnte vor allem der Mitteltafel wegen. Wie Janowski die Klangmassen aufdröselte, die sich da übereinandertürmen und wechselseitig durchkreuzen, konnte man fast schon den Eindruck haben, man höre Henze und nicht Pfitzner. Was aber dessen Konzeption angeht, so muss man sagen, dass er die Schopenhauer-Sätze vielleicht zu flüchtig gelesen hat. Denn es liegt doch auch ein innerer Widerspruch in ihnen, den er nicht zu bemerken scheint. Die Kunst als wohlriechender Duft, der sich aus der Gärung entwickelt, dies Bild könnte wahrlich für den marxistischen Ideologiebegriff stehen. Wie kann sie denn aber „schuldlos“ sein an der Gärung, wenn sie deren eigener Überbau ist?

Vielleicht hat er es aber doch bemerkt. Die Opernhandlung geht so, dass Palestrina zwar nicht auf den Druck der Kirche hin komponiert, sondern weil seine Vorgänger ihn in der Vision, die er hat, dazu auffordern, diese Vision aber als die Art und Weise interpretiert werden kann, in der er aufnimmt, was der Kardinal Borromeo vorher von ihm verlangt hat; er weist den Kardinal zurück und folgt ihm doch. Der Kardinal hatte zu ihm gesagt: „Ihr gebt Euch auf – nun gut! doch eins bedenkt: / Die toten Meister heben ihre Hände [...].“ Palestrinas Musik ist eben doch Auftragskunst. Richtig bleibt aber, dass sie als Kunst einen eigenen Weg einschlägt. Das ist es ja, was ich in einem vorausgegangenen Eintrag über Monteverdi herauszuarbeiten versucht habe. Dieses Verhältnis der Wege, des musikalischen und des nichtmusikalischen (politischen), stellt Pfitzner selbst wieder musikalisch dar, indem er auch, in den Konzilsszenen, den politischen Weg auskomponiert. Neben die Melancholie der Palestrina-Musik treten die aggressiven, hohl-pathetischen oder lachhaft-albernen Bischofs- und Kardinalsgesänge des zweiten Aktes.

Aber durfte man noch weiter melancholische Musik schreiben, wenn sie nunmehr die NS-Politik begleitete?

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Lohnend zu hören war auch die Zusammenstellung von Pfitzner und Bruckner. Denn die leere Quinte, mit der das erste Palestrina-Vorspiel beginnt, beherrscht auch die gesamte vierte Symphonie von Bruckner. Das regt nun selbst wieder zum Nachdenken an, doch will ich hier abbrechen. Janowski sei gedankt!

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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