Schulz ist verantwortlich

Schleswig-Holstein Die Wahl-Schlappe der Nord-SPD sei hausgemacht, heißt es im Willy-Brandt-Haus. Vor Tische las man’s anders

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Der folgende Artikel, geschrieben am 13. März, passte seinerzeit nicht mehr in die von Texten überquellende Zeitung. Nach der gestrigen Schleswig-Holstein-Wahl fiel er mir wieder ein und ich will ihn hier veröffentlichen, weil er zur Beantwortung der Frage beiträgt, wer für die Niederlage der SPD verantwortlich ist: Das ist nicht nur der bisherige Ministerpräsident Torsten Albig, dem jetzt nachgesagt wird, er habe die Rolle des Landesvaters nicht ausfüllen können, das ist vor allem der Kanzlerkandidat Martin Schulz. Die SPD selbst hat schließlich erwartet, der „Schulz-Hype“ würde die Landtagswahlen an der Saar und im hohen Norden zu Treppenstufen auf dem Weg ins Bundeskanzleramt machen. Der 13. März, das war noch vor der Saarlandwahl: Da zeichnete sich schon ab, dass Schulz auf dem Holzweg war.

Mein Artikel lässt am Ende eine gewisse Sympathie für das Projekt einer rot-rot-grünen Koalition erkennen, zu der ich auch stehe. Doch ist inzwischen etwas geschehen. Angesichts der Debatte, die es zur Wahl in Frankreich gegeben hat, fragt man sich, ob eigentlich irgendwer glaubt, Schulz sei weniger neoliberal als Macron? Und wenn so viele Anhänger der Linkspartei geglaubt haben, ein Macron dürfe selbst gegen eine Le Pen nicht gewählt werden, was würden sie denn sagen, wenn Koalitionsverhandlungen ihrer Partei mit Schulz anstünden? Es scheint indessen, dass ihnen die Situation erspart bleiben wird. Am kommenden Sonntag wählt Nordrhein-Westfalen, danach kann man das Thema Schulz vielleicht schon abhaken.

Mein Artikel hatte die Chancen der Linkspartei in der Bundestagswahl auloten sollen. Damals glaubten viele, die Linke würde durch Schulz in den Keller sinken. Ich hielt dagegen, die Leute würden Schulz auf die Finger schauen. Das haben sie getan. Die Linke hat in Schleswig-Holstein Stimmen dazugewonnen.

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Die Chance ist da

Wer die Chancen der Linken im Bundestagswahlkampf 2017 ausloten will, sollte von Anfang an die Entwicklung des Parteiensystems im Auge haben. Denn ob die Handlungen ihrer Spitzenpolitiker oder Gremien hilfreich waren und sind, hängt nicht nur von ihnen selbst ab, sondern auch davon, was die anderen Parteien tun. Nichts könnte das deutlicher unterstreichen als die Nominierung von Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten der SPD! Am 29. Januar 2017 wurde sie verkündet. Das führte am 1. Februar noch nicht zu einer Veränderung der Umfragewerte der Linken, wohl einfach weil das Ereignis bei den Befragten noch nicht „angekommen“ war. Doch Veränderungen folgten bald.

Die Linke erreicht am 1.2. acht Prozent nach infratest dimap wie schon am 26.1. Am 4.1. hatte sie noch bei neun Prozent gelegen und so auch in den Monaten zuvor. Die Verschlechterung im Januar kann Folge von Sahra Wagenknechts Stern-Interview sein. Der Fraktionsvorsitzenden wird wieder von vielen Seiten vorgeworfen, sie rede der AfD nach dem Munde. So viel ist sicher, dass die Vorstellung des Bundestagswahlprogramms der Linken am 14.1. an den acht Prozent nichts zu bessern vermag. An diesem Tag geht nicht nur ihre Klausur zu Ende, sondern es ist auch der Tag der Entlassung von Andrej Holm, des von der Linken gestellten Staatssekretärs für Wohnen im Berliner Senat. Bezeichnend, wie die Tagesschau am Abend des 14.1. von der Vorstellung berichtet: Wagenknecht und auch Dietmar Bartsch, also beide Vorsitzende der Bundestagsfraktion, zeigten sich „offen, auch potentielle AfD-Wähler im Wahlkampf anzusprechen“. Belegt wird das mit Wagenknechts Äußerung: „Ja selbstverständlich! Denn die Linke ist die einzige soziale Protestpartei in diesem Land! Die AfD hat überhaupt kein soziales Programm“, was die Tagesschau-Sprecherin gleich anschließend mit den Worten kommentiert: „Die Linke versucht den Spagat. Einerseits will sie weltoffen links sein; gleichzeitig versucht das Spitzenduo bei potentiellen AfD-Wählern zu punkten.“

Fair kann man das nicht nennen. Niemand würde dem linken Ministerpräsident in Thüringen, Bodo Ramelow, einen „Spagat“ vorwerfen, obwohl doch auch er sagt, man müsse „die Angst der Gesellschaft bekämpfen“, dadurch, dass man sich auf die Seite der Schwachen stelle, denn „diese Angst macht die AfD erst stark“. Es ist vor allem auch deshalb nicht fair, weil man Martin Schulz genau dasselbe vorwerfen könnte: Auch er versucht offenbar „bei potentiellen AfD-Wählern zu punkten“. Glücklicherweise tut er das: Er hat erkannt, dass die AfD die Flüchtlinge gegen sozial Schwache mit deutscher Herkunft ausspielt und dass man deshalb für die deutschen Schwachen etwas tun muss. Aus diesem Grund macht er die mangelnde soziale Sicherung bei Arbeitslosigkeit zum Hauptthema seines Wahlkampfs. Unvorstellbar, dass er dafür von einer Tagesschau-Sprecherin der AfD-Nähe geziehen würde!

Das zeigt eben: Bis in die Tagesschau hinein ist es wichtig, nicht nur wie sich ein Akteur und seine Partei zu irgendeiner Streitfrage verhält, sondern auch von welcher Stelle im Parteiensystem aus sie sprechen. Nach den Regeln, die hier immer gegolten haben, sind SPD und Union die einzig möglichen Regierungsführer und haben deshalb zusammen oder gegeneinander die Richtlinienkompetenz; wenn kleinere Parteien sich äußern, die bloß als subalterne Koalitionspartner in Betracht kommen, streicht man eher ihre wirklichen oder angeblichen Fehler heraus. Das alles, obwohl auf der Hand liegt, dass Schulz von der Linken gelernt hat. Die Linke hat es zuerst ausgesprochen, dass man der AfD das Wasser nur abgräbt, wenn man den Abbau des deutschen Sozialstaats seit Gerhard Schröders „Agenda 2010“ rückgängig macht.

Es stellt sich allerdings die Frage, ob Schulz wirklich viel verändern will oder doch nur „Kosmetik“ betreibt. Und da ist wieder die Korrelation seiner Taten mit der Kurve der Umfragen interessant. Am 23.2. fällt der Umfragewert der Linken von acht auf sieben Prozent. Vorausgegangen sind erste Berichte über die Wahlkampfschwerpunkte, die Schulz setzen will, am 20.2. Er erteilt „Teilen der Agenda 2010“ eine Absage. Das Arbeitslosengeld I soll länger ausgezahlt werden. Warum nützt das der SPD, die nun endlich auch anfängt, Gerhard Schröders vormalige Politik zu problematisieren, statt der Linken, die es von Anfang getan hat? Klar: Solange die Linke allein steht, kann sie nichts bewirken; Schulz aber könnte Kanzler werden, er vor allem muss also unterstützt werden. Doch die Wählerschaft ist wachsam. Am 4.3. wird die „Konkretisierung“ von Schulz‘ Plänen bekannt; der Kandidat will wirklich nicht viel mehr, als das Arbeitslosengeld I zu verlängern. An diejenigen, die dauerhaft aus der Arbeitswelt herausfallen, denkt er kaum. Dies stellen Katja Kipping und Bernd Riexinger, die Parteivorsitzenden der Linken, am selben Tag noch fest. Die Pläne seien völlig unzureichend, sagen sie und es wird in der Tagesschau gemeldet. Bei der Umfrage vom 9.3. steht die Linke wieder auf acht Prozent, ganz wie vor der Nominierung von Schulz. Dieselbe Umfrage weist aus, dass die SPD wieder ein Prozent hinter der Union liegt, wie sie zuletzt ein Prozent vor ihr gelegen hatte.

Man kann die Werte nicht allzu sehr belasten, da ihre Genauigkeit um mehr als ein Prozent schwanken kann. Wohl aber belegen sie, dass die Linkspartei, gemessen an den Umfragewerten, sich weder gravierende politische Fehler vorwerfen noch befürchten muss, bei der Bundestagswahl schlecht abzuschneiden. Denn in Einem sind die Werte unmissverständlich: Die Befragten urteilen nach den Sachlösungen, die von den Parteien angeboten werden (zu 68 Prozent), und nicht nach der Person des Kandidaten (17 Prozent; die langjährige Parteibindung ist für 12 Prozent wichtig).

Diese Zahlen zeigen, dass die Linke auf dem richtigen Weg ist. Vielleicht haben diejenigen recht, die in einem Teil der jetzigen AfD-Wähler weiter nichts als Protestwähler sehen: Protest, der sich nicht gegen die Flüchtlinge richten würde, wenn sich eine der großen Parteien den Kampf für sozial Schwache mit deutscher Herkunft auf die Fahne schriebe. Weil Schulz das vielleicht tut, gewinnt jetzt die SPD Zustimmung und die AfD verliert sie. Die Linke führt den Kampf schon länger; sie konnte nichts Besseres tun. Wagenknechts gelegentlich seltsame, manchmal mindestens ungeschickte Formulierungen haben ihrer Partei offenbar nicht geschadet. Ihrer starken Stellung in der Partei sowieso nicht, aber auch den Wählenden gegenüber nicht, denn die Kurve der Parteizustimmung bei den Umfragen ist ihretwegen nicht gefallen.

Positiv schlägt vielmehr zu Buche, dass sie mit dem Ko-Fraktionsvorsitzenden Dietmar Bartsch so gut zusammenarbeiten kann, wie es niemand erwartet hat. Und auch die Selbsternennung beider zur ausschließlichen Spitzenkandidatur im Wahlkampf hat weder der Partei noch ihnen selbst geschadet. Die Parteivorsitzenden Kipping und Riexinger haben sich gefügt und fanden zugleich den Kompromiss, das „Spitzenduo“ um sich selbst zum „Spitzenteam“ zu erweitern; so verkündeten sie bei der Vorstellung des Wahlprogramms am 14. Januar. Damit ist vielen gedient, denen es um Verschiedenes, wenn auch Zusammengehöriges geht: Kipping steht für die Großstadtlinke, Riexinger für die Gewerkschaft, Wagenknecht für die Essentials des Wahlprogramms bei künftigen Koalitionsverhandlungen und Bartsch für den Willen, mit der SPD auch wirklich zu koalieren.

Bartsch steht sogar mit Gabriel auf du wie überhaupt mit den meisten SPD-Abgeordneten. Doch auch Wagenknecht ist zum Essen mit Gabriel schon einmal mitgegangen. Die bekannten Probleme einer rot-rot-grünen Koalition auf Bundesebene bleiben zwar bestehen. Einen Teil müsste Schulz noch ausräumen, indem er über kosmetische Änderungen der „Agenda 2010“ deutlich hinausgeht. Und die Linke müsste eine Kompromissformel finden, was ihre Haltung zum Mitmachen der Bundeswehr in der NATO angeht. Sie hat aber die Chance, eine starke Verhandlungsposition zu gewinnen, wenn sie Schulz im Wahlkampf immerzu auf den Zahn fühlt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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