1913 Vor 100 Jahren feiert Nikolaus II. in Russland das 300jährige Bestehen der Romanow-Dynastie. Längst liegt ein Umsturz in der Luft, den eine Kulturrevolution ankündigt
Florian Illies’ Buch 1913. Der Sommer des Jahrhunderts, das derzeit die Bestseller-Listen anführt, fügt Ereignisse aus ganz Europa zum Mosaik zusammen. Ein anderes Buch mit weniger idyllischem Titel ist schon 2000 in München erschienen: Der große Bruch. Russland im Epochenjahr 1913 von Felix Philipp Ingold, dem Schweizer Kulturwissenschaftler. Es lohnt, daran zu erinnern, denn in Russland stand seinerzeit nicht nur, wie in ganz Europa, der Erste Weltkrieg bevor, sondern auch die Oktoberrevolution. Dass man sich im Übergang zu etwas Neuem befand, auch dass womöglich die Zertrümmerung des Alten vorausgehen würde, war zwar überall gespürt worden. Aber nur in Russland entstand dann wirklich eine ganz andere Gesellschaftsordnung. Zeichnete
ftsordnung. Zeichnete sich dieser Unterschied schon 1913 ab? Man sieht jedenfalls auf den ersten Blick, und das ist der Hauptgegenstand von Ingolds Buch, dass ausgerechnet hier der radikalste künstlerische Umsturz geschah.Da Russland immer als rückständig galt, hatte niemand erwartet, dass es sich an die Spitze der europäischen Kunstavantgarden setzen würde. Es war so jämmerlich, wie hier noch geherrscht wurde. An den Feiern zum 300-jährigen Bestehen des Zaren-Hauses Romanow, die am 21. Februar kulminierten, stimmte nichts, nicht einmal der Name, denn die Romanows waren seit 1761 ausgestorben. Den deutschstämmigen Zaren Nikolaus hielt das nicht ab, sich ein teures Jubiläumsgeschenk zu machen: ein „Winter-Ei“, das mit über 3.000 Diamanten besetzt war und den Eindruck von schmelzendem Eis erwecken sollte. Lumpige 24.600 Rubel, das Hundertfache eines durchschnittlichen Jahresgehalts, gab er dafür aus. Ein russischer Großfürst, der am Zarenhof lebte, schrieb rückblickend, das Jubiläum sei „ohne große Begeisterung“ begangen worden. „Und ich erkläre diese Tatsache damit, dass die Revolution bereits in der Luft lag.“ Tatsächlich gab es Arbeitsniederlegungen und Protestdemonstrationen wie nie zuvor: 877.000 traten landesweit in den Ausstand, 764.600 allein in Petersburg, mehr als ein Drittel der Einwohner. Am 1. Mai 1913, für den Stalin ein Flugblatt schrieb („Das Arbeitermeer wallt auf und schäumt“), streikten 200.000 Arbeiter.Ärger der IntellektuellenSo wird man Leo Trotzki zustimmen, der später auf diese Zahlen gestützt behauptete, zur Revolution wäre es auch ohne Krieg gekommen. Dabei befand sich Russland ökonomisch im Aufschwung. Ein französischer Wirtschaftsexperte, der 1913 nach Russland reiste, um Landwirtschaft und Industrie, Handel und Finanzen vor Ort zu studieren, kam zu dem Schluss, das Land werde „gegen die Mitte des Jahrhunderts Europa dominieren“. Nur, wer erntete die Früchte? Die Arbeiter und Bauern jedenfalls nicht. Aber auch die Industriellen hatten Grund zur Unzufriedenheit. Die imperialistische Machtpolitik des autokratisch regierenden Zarenhofs überlastete Volk und Wirtschaft. In der Voraussage jenes französischen Beobachters fehlte der Zusatz, dass Russland, um „Europa zu dominieren“, erst einmal den Widerspruch zwischen expandierenden ökonomischen Kapazitäten einerseits und zu engen politischen und Produktionsverhältnissen andererseits auflösen musste.Ein Aufstand kann aber nur siegreich sein, wenn vorher eine Kulturrevolution stattgefunden hat. Sie kam um 1913 mit einer Wucht, die man schwer begreift. Der Ärger der Intellektuellen über die Herrschaft eines Zaren, der sich nicht einmal von der scheinparlamentarischen Duma, sondern lieber von dem obskuren Frauenhelden und Wanderprediger Rasputin beraten ließ, war sicher die Grundlage. Und doch ist die Radikalität erstaunlich, mit der die Kunstavantgarde gleich alles Vorhandene der Vernichtung weihen wollte.Wie ist das zu erklären? Zunächst gab es eine Verknüpfung ihrer gedanklichen Welt mit der industriellen über das Scharnier der russischen Fliegerei, für die 1913 ein Gipfeljahr darstellte. Als im Mai der weltweit erste Flug mit einer mehrmotorigen Maschine gelang, wurde das in Westeuropa für eine Zeitungsente gehalten. Doch der Flieger Igor Sikorski machte weiter. Und so musste man im August seinen Weltrekord zur Kenntnis nehmen, ein Flugzeug mit sieben Passagieren knapp zwei Stunden in der Luft gehalten zu haben. Im selben Jahr schloss Konstantin Ziolkowski, der noch heute als wichtigster Pionier der Raumfahrt gilt, seine Studien über den Flug bemannter Raketen ab. Zugleich verfasste er unter dem Titel Schwerelos eine „wissenschaftlich-phantastische Erzählung, die das Zeitgefühl der „Bodenlosigkeit“ beschwor. Diese neu gewonnene Leichtigkeit, die auch etwas Erschreckendes hatte, wurde in der Kunstszene, wie Ingold in seinem Buch zeigt, zur zentralen Metapher: „ … und dies sowohl auf der Darstellungsebene (Flugmotive, Flugthematik) wie auch in der Struktur der Werke selbst (Auflösung des Horizonts, aperspektivische Optik, asyntaktische Fügungen, alogische Verknüpfungen).“So hatte Alexander Blok schon 1912 sein Gedicht Der Aviatiker veröffentlicht, in dem die Flugmaschine als „Tier mit den verstummten Luftschrauben“ erscheint: „Such du mit ausgeblühten Augen / In der Luft einen Halt ... in der Leere!“ Während der Dichter noch klagt, hatten sich andere in der Haltlosigkeit bereits eingerichtet. Dichtung und Malerei, die das Abheben von der Erde als Überwindung eines Gefängnisses feierten, hatte es schon vorher in Italien gegeben. Nach dortigem Vorbild sah sich nun auch Russlands Avantgarde als „futuristisch“. Diese durch Russlandreisen von Marinetti und anderen vermittelte Korrespondenz wirft die Frage auf, ob ein religiöser Hintergrund für die Radikalität der Feier des „Leeren“ verantwortlich gemacht werden könnte. Denn im Papst- ebenso wie im Zarenland spielte die Religion eine herausragende Rolle. Was Russland angeht, stoßen wir denn auch auf den Vergleich von Aviatik und Himmelfahrt. Er war unter Literaten gang und gäbe. In Russland kam aber noch hinzu, dass seit Turgenew und Dostojewski der Nihilismus beschworen worden war.In Deutschland hatte Friedrich Nietzsche mit dem Satz „Gott ist tot“ auf seine Lektüre Dostojewskis reagiert, doch wusste er selbst, dass man gleichgültig darüber hinweggehen würde. Die Ansage wirkt mehr, wenn sie auf den fruchtbaren Boden einer religiösen Kultur fällt. Und so sehen wir, wie sie in Russland wirkt: Die Generation von 1913 ist es leid, sich den Nihilismus-Vorwurf anzuhören – sie will ihn bewahrheiten.Wieder geht es um FlugmaschinenSo gibt es einen Text des Malers Kasimir Malewitsch, Das Jahr 1913, in dem er das Abheben feiert, in einen „Himmel, wo die Form des Skeletts und des Leibs zur Gänze schwinden“, und mit dem sich „überheben“ gleichsetzt: „Haben wir einmal den Himmel erlangt, so bleibt uns die Aufgabe, alle EIGENSCHAFTEN GOTTES zu erlangen, d. h. allsehend zu sein, allmächtig und allwissend.“ Malewitsch ist der Schöpfer des Schwarzen Quadrats. Dieses karge und völlig gegenstandslose Gemälde wird 1915 ausgestellt – doch 1913 ist das Jahr, in dem der Künstler das Schwarze Quadrat entdeckt haben will. Tatsächlich taucht es als Element des Bühnenbilds, für das er verantwortlich zeichnet, zur 1913 aufgeführten Oper Sieg über die Sonne von Michail Matjuschin auf. Hier geht es wieder um Flugmaschinen, mit denen soll gesiegt werden. Hier erklärt Malewitsch selbst sein Quadrat, indem er brieflich mitteilt, es stehe für den „Keim sämtlicher Möglichkeiten“, die als solche allerdings unwirklich und daher gegenstandslos sind. Als Inbegriff des Möglichen war Gott schon von Thomas von Aquin definiert worden.An dieser Oper ist auch Welimir Chlebnikow als Librettist beteiligt. Er steuert solche Verse wie „l l l / kr kr / tlp / tlmt“ bei. Mit ihm war der junge Roman Jakobson befreundet, der zum bedeutendsten Linguisten des 20. Jahrhunderts werden sollte. Seine Aufmerksamkeit fürs einzelne Phonem trug dazu bei.
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