Serien

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Alles in die Sinngebung

Ein Werk im Konzert zu hören ist etwas anderes als es nur von der CD her zu kennen. Die wirklichen Klänge und Lautstärken und ihr wirkliches Verhältnis zueinander kommen über den Hörer, er hört dadurch erst wirklich die Artikulation, die Akzente und Nuancen, die ein Werk setzt, wovon ja wie in der literarischen so in der Musiksprache der Sinn abhängt. Ich hatte, als ich heute zu schreiben begann, mit diesen Sätzen eigentlich nur den Bericht vom gestrigen Konzertabend einleiten wollen. Aber während ich sie schrieb, fiel mir auf, dass sie fast schon als erste Annäherung ans Phänomen "serielle Musik" gelten können.

Denn sie sprechen aus, dass Melodie, Harmonie und Rhythmus - oder Tonhöhen-Verlauf, Zusammenklang der Verläufe und Rhythmus bei Neuer Musik - nicht allein schon den musikalischen Sinn bestimmen, während, wenn das so wäre, das Verhältnis der Klänge zueinander nur ornamentale Bedeutung hätte und das Verhältnis der Lautstärken nur dazu diente, Gefühle zu erregen oder auszudrücken. So ist es schon in älterer Musik nicht gewesen, sondern zum Gefühl- und Ornamentcharakter trug auch da schon alles bei, auch der Tonhöhen-Verlauf, und ebenso trug alles Bedeutung, auch der Verlauf der Lautstärken. Letzteres hatten die Komponisten aber nur eher intuitiv berücksichtigt, das heißt wieweit es ihnen gelang, hing noch ganz von ihrer "Genialität" ab. Ihr "Fleiß" hingegen, die konstruktive Kraft des Gestaltens von Sinn war ganz auf Melodie und Harmonie gerichtet. Die serielle Musik will nun aber a l l e s konstruieren, auch Klänge, Lautstärken und Rhythmen, um a l l e s in die Sinngebung einzubeziehen. Indem auch letztgenannte Parameter einen durchdachten je eigenen Verlauf erhalten, als wären sie selbst etwas wie Melodien, wird die "Mehrstimmigkeit" von Musik erhöht und gewissermaßen vervollständigt.

Man kann das auch so formulieren, dass die ältere Musik hinsichtlich z w e i e r Parameter, der Melodien und der Harmonien, ihren Fleiß in die Konstruktion von S e r i e n setzte, während die Neue Musik Serien für a l l e Parameter forderte und eben deshalb " s e r i e l l " hieß. Abgesehen davon, aber das wollen wir ein anderes Mal erörtern, legte sie der Serienkonstruktion bestimmte Regeln zugrunde, die in der älteren Musik nicht galten, etwa beim Tonhöhen-Verlauf die Regel, dass kein Ton wiederholt werden dürfe, bevor nicht alle anderen Töne erklungen seien. So in Schönbergs Dodekaphonie, der "Methode der Komposition mit zwölf Tönen", mit der ja alles anfing.

Die bewusste Komposition der Klang- und Lautstärken-"Serie" (der Ordnung ihres Verlaufs) stellt auch hinsichtlich dieser Parameter zwischen musikalischen Ereignissen, die in älterer Musik eher unkohärent, wenn auch durchaus nicht zufällig über die Werke verteilt waren, genau durchdachte Zusammenhänge her. Die durchdachte Komposition der Rhythmen tut sogar noch mehr als das. Sie macht nicht nur die Verläufe kohärent, sondern differenziert auch die überlieferten rhythmischen Floskeln. Und als man so weit einmal gekommen war, blieb es auch dabei nicht. Das Interesse der neuen Komponistengeneration an e l e k t r o n i s c h e r M u s i k ergab sich daraus, dass diese es erlaubte, auch die Tonhöhen-Intervalle und vor allem die Klänge zu differenzieren.

Es wurde nun möglich, K l ä n g e in einen Verlauf zu bringen, der genauso stringent war wie der der anderen Parameter. Die anderen Parameter hatten immer schon mögliche musikalische Ereignisse bereitgestellt - dem Komponisten zur Auswahl -, die kontinuierlich und abzählbar ineinander übergingen, indem zum Beispiel die Tonhöhe in Halbtönen steigen, der Laut immer lauter werden kann und die rhythmischen Schläge sich verdoppeln, vervier- und verachtfachen können; nur die Klänge, an tradierte Instrumente gebunden, begegneten sich als q u a l i t a t i v e Verschiedenheiten. Jetzt aber, mit der Elektronik, konnte man auch sie so erfinden, dass es möglich wurde, sie auf einer Skala anzuordnen.

Die Kraft des Wassers

... ein Werk im Konzert zu hören, wie ich gestern erstmals die Sinfonia von Berio.

Wo er "Serien" komponiert hat, haben sie sich mir nicht mitgeteilt, das sollen sie aber auch nicht. Man hat auch tonale Musik früher nicht so erlebt, dass man die konstruktive Seite erfasste. Vielmehr erfasste man sie mit dem Gefühl. Während ich tonale Musik heute oft schon beim ersten Hören mit dem analytischen Verstand hören kann, gelingt das bei Neuer Musik eben nicht; aber das ist unwichtig.

Was ich wohl heraushörte, war, dass gewisse Lautstärke-Ausreißer in der Musik von Mahler, die Berio im dritten Satz der Sinfonia übernimmt (ich habe darüber gestern und vorgestern berichtet), sich in ein über das ganze Werk verteilendes Netz heftiger Tonschläge einreihen, wodurch sie einen ganz anderen Charakter bekommen. Mahler betont nämlich eine bloße Überleitungsfigur in seinem Lied "Des Antonius von Padua Fischpredigt", um die Banalität der Figur kenntlich zu machen und preiszugeben. Augerechnet dieser laute Akzent wird bei Berio Teil der übergreifenden Ordnung und reiht das Lied in sie ein. Wie ich sagte, stellt der dritte Satz die Vergeblichkeit der Predigt der 68er dar (es werden sogar, wie ich gestern noch las, ein oder zwei Texte von Sprechchören des Pariser Mai eingeblendet): Wer weiß genau, was an dieser Revolte das historisch Weiterführende war, wer weiß, worauf spätere Revolten zurückgreifen werden? Vielleicht gerade auf das nicht, worin sich die damaligen Akteure groß vorkamen, sondern auf anderes, was ihnen nur so unterlief. Dafür hat Berio ein musikalisches Bild gefunden.

Den indianischen Wassermythos lässt er im ersten Satz vortragen, dazu gibt es eine Musik, deren Felder und Rhythmen äußerst kraftvoll erscheinen. Das Wasser ist das Symbol des Ewigkeitsziels, das sich freilich nach mythischer Logik als Ur-Erstes präsentiert, das verloren wurde. "Als das Meer entstanden war, wollten Asarés Brüder sofort in ihm baden." Aber wie auch immer verloren, die Musik hat die Kraft des Ziels sinnfällig gemacht, und wenn später das Antoniuslied daran anknüpft, wegen des Flüssleins, an dem gepredigt wird, dann hört man, wie es an der Kraft teilhat, hinter dem Rücken des Predigers.

Von den vielen musikalischen Zitaten, die Berio im dritten Satz der Sinfonia zusammenträgt, habe ich wenig gehört, aber zwei waren nicht zu überhören. Einmal der Walzer aus dem Rosenkavalier von Richard Strauss, zum andern La mer von Debussy. Der Walzer ist bei Strauss die Musik des Barons Ochs von Lerchenau, des alten Kavaliers, der nicht Platz machen will, obwohl seine Zeit abgelaufen ist. In La mer gibt es Stellen, die den Anschein erwecken, die Ewigkeit breche schon an. Diese Vergangenheit und diese Zukunft, in die "1968" eingespannt war, montiert Berio in den musikalischen Kommentar mit ein. Und auch die Gegenwart hat er eingefügt. Der dritte Satz endet nämlich immer so, dass der Sprecher, der bis dahin aus Becketts Roman Der Namenlose vorgelesen hat, die Worte "Thank you, Mister...", und es folgt der Name des diensthabenden Dirigenten, ausspricht. Das löste auch gestern Abend Heiterkeit aus. Es ist komisch und ernst, das Publikum findet sich in der Antonius-Rolle wieder.

Man konnte die Sinfonia so hören, dass ihre ersten drei Sätze dem klassischen Schema folgen: gewichtiger Ecksatz, langsamer lyrischer Satz, Scherzo. Der dritte Satz ist Scherzo schon bei Mahler und so bei Berio. Berios zweiter Satz ist kurz, ein Chor der Klage zu den Worten "O King O Martin Luther King" aus einfachen Folgen weniger Töne, die langsam vorgetragen werden. Der vierte Satz aber, der noch kürzer ist, bricht mit dem Schema. Er wiederholt den zweiten, wobei die Tonfolge weithin auf ein einziges Intervall, die große Sekunde, reduziert wird. Darin lebt teils die Klage wieder auf, teils hört es sich wie Hoffnung und Frage an. Man kann auch wieder eine Reminiszenz an La mer darin sehen. Bei der Uraufführung 1968 endete die Sinfonia mit diesem Satz. Ein Jahr später fügte Berio den fünften an. Er geht aus dem vierten direkt hervor, lässt seine Musik kraftvoller werden und schließlich in die Kraft des ersten Satzes münden.

Ich fahre am Montag fort und schreibe dann über das Konzert heute Abend, wo frühe Werke von Boulez gegeben werden, unter anderm die Kantate Le Visage nuptial von 1946 in der Überarbeitung von 1989.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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