Sichtbare Spuren von Dante (II)

750-Jahr-Feier Das Forte Belvedere und das Kloster San Marco geben zu denken

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Was ist eigentlich eine Spur? Nicht nur die bruchstückhafte Hinterlassenschaft von jemand oder etwas, nicht nur die direkte Bezugnahme anderer darauf. Sondern auch alles, was den Suchenden zum Gesuchten hinleitet. In Dingen, bei denen er sich nichts dächte oder nicht das dächte, wenn er nicht seine Frage hätte, begegnet er plötzlich dem Gesuchten. Man kennt es aus Kriminalromanen: Ein Kinderlied weht vorbei und enthält ein unschuldiges Stichwort, bei dem sich Hercule Poirot an den Kopf fasst - jetzt wird er finden, was er sucht. Oder die Spur im Traum: Eine Gestalt, die ich kenne oder nicht kenne, erweist sich als Deckperson des mir lieben Menschen.

Von der Art waren zwei Besichtigungen, von denen ich noch erzählen will vor der Reise nach Orvieto. Einmal der Besuch im Forte Belvedere. Das ist eine Festung über Florenz aus dem 16. Jahrhundert, die gebaut wurde, um die Herrschaft der Medici zu sichern. Man findet im Netz die Meinung, das müsse man sich nicht unbedingt ansehen, aber ich habe hier manche besonders glückliche Stunde meines Lebens verbracht. Schon der Blick von dort aus auf die Stadt und die Landschaft daneben ist überwältigend, aber man läuft auch gern auf dem Gelände herum, so leer es auch ist oder gerade deshalb,

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und was ihm immer die Krone aufgesetzt hat, waren die Skulpturausstellungen, für die man sich keinen besseren Ort vorstellen kann als diesen. Henry Moore, Jonathan Borofsky, was waren das Anlässe für endlose Gespräche... Als ich im Frühjahr 2014 den Hügel wieder hinaufgestiegen war, standen zwei junge Männer vor dem Eingang; ernst teilten sie mit, die Festung sei geschlossen wegen der tödlichen Unfälle, die es in letzter Zeit gegeben habe. Tatsächlich sah ich dann das Plakat, auf dem berichtet wurde, wie es eine besonders gefährliche Stelle gab, an der schon immer Hunde abgestürzt waren, vor kurzem aber auch ein junger Mann, nach welchem Unfall sich eine Bürgerinitiative gebildet hatte, und jetzt auch noch, das Plakat nannte es einen „angekündigten Tod“, eine junge Frau. Ich hatte vorher gefragt, wann die Festung denn wieder geöffnet würde, und erhielt von einem der Cherubim die Antwort: „Never.“ Nicht wenig war ich betroffen. Es war ja, als hätte der Ort nie besucht werden dürfen.

Aber dieses Jahr ist die Festung doch wieder zugänglich. Die gefährliche Stelle ist nun auch nach Auffassung der Bürgerinitiative hinreichend geschützt, nur dass sie noch immer die Auffindung und Bestrafung von Schuldigen in der Stadtverwaltung verlangt. Der Ort war also doch keine Hölle. Ein Läuterungsberg ist er schon noch. Allein der Aufstieg bei 39 Grad macht ihn dazu, vor allem aber die diesjährige Skulpturen-Ausstellung, die unter dem Titel HUMAN von Antony Gormley inszeniert wird. Der gehört zu den Künstlern, die mit dem bestimmten Raum arbeiten, in den sie ihre Figuren stellen. So hatte er 2012 zur Installation „Horizon Field Hamburg“ gesagt: „Dies ist meine Antwort auf dieses außergewöhnliche Gebäude“, die größere Hamburger Deichtorhalle nämlich. Was HUMAN in Florenz angeht, so gehört die Gruppe Critical Mass zu den ausgestellten Objekten, für Gormley ein „Anti-Monument“, mit dem er die Opfer des 20. Jahrhunderts evozieren will; es erinnert ein wenig an einen Leichenberg, obwohl auch Lebende darunter sind. Abgesehen von dieser Gruppe sitzen, stehen oder liegen viele einzelne Menschenkörper auf dem Gelände, die bestraft zu werden scheinen, wo aber noch Hoffnung auf Begnadigung bestehen mag. Bei denen liegt der Gedanke an die Unfälle der letzten Jahre nicht fern.

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Aber auch Dante ruft sich in Erinnerung. Dessen Läuterungsberg ist so angelegt, dass Strafen die Körper schinden, wenn auch nicht mehr zerstören, und die Örtlichkeit dazu beiträgt. Das geht Gormleys meisten Figuren so. Bei diesen etwa

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denke ich an den zehnten und elften Canto, wo Dante schreibt: „Ich sagte: Meister“ – er spricht mit Vergil -, „was ich dort auf uns zukommen sehe, scheinen mir keine Menschen zu sein [...]. Und er zu mir: Die harten Bedingungen ihrer Qual sind, dass sie zur Erde gebückt gehen müssen. [...] Wie man manchmal zur Stützung der Zimmerdecke oder des Daches eine Figur als Konsole sieht, die die Knie an die Brust zieht und die, obwohl nicht echt, beim Betrachter echtes Mitleid hervorruft, so sah es jetzt bei ihnen aus, als ich erst richtig hinschaute. Allerdings gingen sie stärker oder weniger stark gekrümmt, je nachdem, wie viel sie auf dem Buckel hatten.“ Bestraft wird der Hochmut, politischer Hochmut nicht zuletzt. Da ist zum Beispiel einer, der „sich anmaßte, Siena ganz und gar unter seine Macht zu zwingen“. (nach Hartmut Köhlers Übersetzung)

Nicht ewig wird er gequält oder quält sich selber. Auf dem Gipfel des Danteschen Berges wird das irdische Paradies erreicht. Das ist auch hier in Florenz so, nur ist Belvedere Läuterungsqual und Paradies in Einem.

Mein anderer Besuch galt den Fresken Fra Angelicos, gemalt um 1430 herum, im Kloster San Marco. Die hätte ich von allein nicht entdeckt, aber Silvi hatte mich darauf aufmerksam gemacht. Es gibt da einen riesigen, auch hohen Raum, eine ganze Etage füllt er aus, an dessen Wänden kleine niedrige Mönchszellen aneinandergereiht sind, und ihnen gegenüber, durch einen Gang getrennt, sind weitere Zellen. Sie sind alle hell getüncht und die an den Außenwänden haben Fenster. Sie waren wahrscheinlich früher so leer wie heute, doch in jede hat Angelico ein Bild zum Meditieren gemalt. Wie könnten sie reicher ausgestattet sein? Es ist wahr, die Bilder sind faszinierend. Am schönsten fand ich die Darstellung der Verkündigung:

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Maria neigt sich auf der rechten Seite des gemalten Raums, der im Grunde die Mönchszelle wiederholt, und hat noch kaum mehr Farbe als die getünchte Wand um sie herum; aber schon ist der farbenprächtige Engel gekommen, dessen Flügel ein wenig an Orgelpfeifen erinnern und der ihr die Gottesmutterschaft ankündigt. Die Farbe des Engels wird auf sie übergehen.

Eine andere Zelle gab es, wo ich wieder an Dante dachte. Um das hier aufgemalte Fresko zu verstehen,

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muss man zunächst die Bibel kennen und genau genommen den Hebräerbrief, wo zu lesen ist, es sei Jesu Rolle gewesen, „durch den Tod abzutun den Inhaber der Todesgewalt – das heißt den Teufel – und all die freizubekommen, die durch Todesfurcht während des ganzen Lebens der Knechtschaft verhaftet waren“ (2, 14 f.), und weiter: Jesus sei der Hoheprieser, der sterbend „ein für allemal in das Heiligtum eingegangen“ sei (9, 12), womit er das rettende Beispiel setzte, das heißt zur Nachfolge aufrief. „Da wir nun, Brüder, im Blute Jesu einen offenen Weg hinein ins Heiligtum haben, einen frischen und lebendigen Weg, den er uns durch den Vorhang hindurch – das ist sein Fleisch – bereitet hat“, so „lasst uns hineintreten mit wahrhaftigem Herzen in der Volltracht des Glaubens“ (10, 19 ff.). (nach Fridolin Stiers Übersetzung) Angelico setzt das so um, dass Jesus, mit dem Siegespanier schon in der linken Hand, mit der rechten die Brüder nach sich zieht in einen anderen Raum, der durch ein Tor verschlossen war, das nun entmächtigt am Boden liegt. Unter dem Tor liegt bewegungsunfähig, wenn nicht zerquetscht der vormalige „Inhaber der Todesgewalt“. Wie die Brüder von ihm beherrscht waren, sieht man noch daran, dass sie aus einem nachtschwarzen Gang zu Jesus geflüchtet sind.

An Dante erinnert mich das deshalb, weil ich ihn so interpretiere, dass sich seine Hölle und sein Himmel, sehr verkürzt gesagt, eigentlich auch nur danach unterscheiden, ob jemand mit oder ohne Entsetzen in den Tod geht. Sein Bild dafür ist das Feuer: Wenn er in der Hölle einem Menschen begegnet, der in Flammen steht, begegnet er der Höllenqual, doch auch im Himmel findet er solche Menschen und da sind die Flammen Ausdruck der Seligkeit, wie man ja sagt, jemand sei „Feuer und Flamme“ für etwas. Auf dem Läuterungsberg geht die eine Bedeutung in die andere über. So muss Dante selbst durchs Feuer gehen, um das irdische Paradies auf der Bergspitze betreten zu können.

In diesen Kontext mag es gehören, dass Dante einen Mann in den Himmel versetzt hat, der als Ketzer galt, Siger von Brabant nämlich, den Averroisten. Darüber hat man sich oft gewundert. Aber bei Siger lesen wir einschlägige Betrachtungen, die Dante vielleicht gekannt hat. Er fragt, ob die Seele vom Feuer gequält werden könne, und führt aus: Einige sagen, sie könne zwar etwas erleiden, dies aber „nicht, weil sie verbrennt, sondern weil sie sieht, dass sie im Feuer ist“. „Dagegen wird argumentiert: Und obwohl die Seele sich im Feuer sieht, nimmt sie doch nicht wahr, dass das Feuer ihr schadet.“ „Auf andere Weise kann es betrachtet werden, insofern es ein Werkzeug der göttlichen Rache ist, und wenn man es so betrachtet, dann kann die Seele von ihm etwas erleiden.“ (Fragen zum dritten Buch von Über die Seele [des Aristoteles], hier Frage 11 in Matthias Perkams‘ Übersetzung)

Man kann leicht auf den Gedanken kommen, dass es bei Dante wie bei Angelico, bei Siger wie schon im Hebräerbrief nicht so sehr um ein „Leben nach dem Tode“ geht als nur um das Leben, wir wir es kennen, und um den Tod, der ihm ein Ende setzt. Das hüllt Dante noch in phantastische Jenseitsbilder, die im Grunde aber auch nur vom Leben handeln, selbst wenn Qualen geschildert werden oder gerade dann.

Wie wir sehen werden, fällt bei Signorelli noch das Phantastische weg bis auf einen kleinen Rest. Seine Verbundenheit mit Dante reicht aber über diesen Aspekt hinaus. Mit der folgenden, hier letzten Ansicht sind wir schon in Orvieto: Zwischen den Häusern der engen Straße taucht der Dom auf, den man sich auf einem weiten Platz stehend vorstellen muss. In dessen Innern werden wir zur Cappella di San Brizio gelangen.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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