Friedrich Engels in seiner ganzen thematischen Vielfalt: Zwei Jahre nach dem 200. Geburtstag des Fabrikantensohns liegen nun auch die Beiträge zum Wuppertaler Kongress „Die Aktualität eines Klassikers“ vor. Dass Engels’ Bedeutung größer war, als dass er nur die Schriften seines Freundes Karl Marx popularisiert hätte, ist inzwischen oft betont worden. Dieser Band zeigt es im Einzelnen. So erfahren wir, dass Marx’ ökonomische Forschung sich ganz im Rahmen eines Forschungsprogramms bewegte, das Engels vorher ausgearbeitet hatte.
Dieses Programm hatte aber nicht nur darin bestanden, den Kapitalismus als System der Produktion und Distribution auf Märkten zu kritisieren. Denn zur Kapitallogik gehören nicht nur Ausbeutung, Ware und Geld, sondern auch eine bestimmte Form von Staatlichkeit und eine bestimmte Art, die Naturwissenschaft zu verwenden. Die letztgenannten Themen wurden weit mehr von Engels als von Marx erforscht. Ich möchte hier nur auf den wichtigsten Kongressbeitrag eingehen, in dem Wolfgang Streek untersucht, wie Naturwissenschaft und Technik vom kapitalistischen Staat verwendet werden: in einer dunklen Sonderökonomie, die nicht Produktiv-, sondern Destruktivkräfte entwickelt. Auch dass Engels zu den führenden Militärwissenschaftlern seiner Zeit gehörte, ist inzwischen gut bekannt. Wie aktuell aber seine diesbezüglichen Forschungsergebnisse sind, hat man so klar wie bei Streek noch nicht gelesen. Marx und Engels interessierten sich anfangs deshalb für Kriege, weil sie erwarteten, die proletarische Revolution werde sich als Bürgerkrieg oder nach dem Vorbild der napoleonischen Kriege ereignen. Mit dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861 – 65) veränderte sich ihre Sicht. Sie schrieben, er sei allein schon wegen der „fabelhaften Kosten“ der beteiligten Armeen „ein Schauspiel ohne Parallele in den Annalen der Kriegsgeschichte“. Auch in Europa wurden nun solche Heere aufgestellt. Was sollte die Arbeiterklasse gegen sie ausrichten? Im Versuch, die Frage zu beantworten, kamen Engels und wohl auch Marx zu der Einsicht, dass die Staaten im Verhältnis zu den Gesellschaften erheblich erstarkt waren – sie bloß als „Ausschuss“ zu sehen, „der die gemeinschaftlichen Geschäfte der ganzen Bourgeoisie verwaltet“ (so die Definition im Kommunistischen Manifest), war irreführend geworden.
Sich untereinander abwürgen
Dass sie auf den Ersten Weltkrieg zuschritten, in dem sich „acht bis zehn Millionen Soldaten untereinander abwürgen“ würden, sah Engels voraus, meinte aber, am Ende würde das zum Sieg der Arbeiterklasse führen – was dann nur, um den Preis weiteren Abwürgens in derselben Größenordnung infolge der ausländischen Intervention, in Russland geschah. Seitdem war klar, dass Staatenkriege gefährlicher als kapitalistische Wirtschaftskrisen waren. Auch deshalb ließ sich die Mehrheit der deutschen Arbeiterklasse mit ein paar Konzessionen abspeisen, statt den Aufstand zu proben, der vor keinem Feindstaat geschützt hätte. Der Klassenkonflikt wurde ersatzweise aufs Staatensystem projiziert. Diese Tendenz verfestigte sich nach der Erfindung der Atombombe.
Wieder ein paar Jahrzehnte später fand die technische Entwicklung „in ihren Frontlinien nicht mehr in der Privatwirtschaft statt, sondern in den Rüstungsprogrammen insbesondere des mächtigsten Staates der Welt, der USA – von der Luft- und Raumfahrt zur sogenannten ‚friedlichen Nutzung der Atomenergie‘ bis hin zu der derzeit die kapitalistische Ökonomie revolutionierenden mikroelektronischen Informationstechnologie“. Inzwischen hat das schon dazu geführt, dass der Krieg unter staatlicher Aufsicht an kleine Privatunternehmen delegiert werden kann. Dies „entlastet Regierungen von der Notwendigkeit, für militärische Operationen Zustimmung an der Heimatfront zu mobilisieren“.
Man fragt sich, wie es unter solchen Umständen überhaupt noch Widerstand geben kann. So paradox es klingen mag: Der Vernichtungsmacht kann nicht mehr anders als mit friedlichen Mitteln begegnet werden. Die mächtigsten Staaten sind immer noch parlamentarisch verfasst. Solange sie es sind, ist die Erlaubnis, in ihnen vom Frieden zu sprechen, ihre Schwachstelle.
Info
Naturphilosophie, Gesellschaftstheorie, Sozialismus. Zur Aktualität von Friedrich Engels Smail Rapic (Hg.), Suhrkamp 2022, 393 S., 24 €
Kommentare 4
Danke für den anregend ausgeführten Hinweis auf diese Publikation. Einem wie mir spendet so ein Moment des vernünftigen Denkens geradezu Trost in einer Zeit, wo den allergrößten Gefahren der jüngeren Geschichte hauptsächlich irrational begegnet wird.
"Den Kapitalismus als System der Produktion und Distribution auf Märkten zu kritisieren", das tut ja heutzutage im Prinzip jeder, gehört zum guten Ton. "Den Kapitalismus als System der Produktion und Distribution auf Märkten" und als Gesellschaftsform aber zu VERSTEHEN, daran mangelts heute mehr denn je. Ein bisschen Konsumkritik und Zorn auf Leute, die in SUVs rumfahren, das ist es meist auch schon. Mir erscheint es derzeit so, als würden sehr viele sich gar nicht mehr im Kapitalismus wähnen. "Wir" haben Demokratie, die Russen Diktatur. Wo ist da noch Kapitalismus? :-)
PS: Was ich für höchst interessant und aktuell dringend nötig halte, wäre eine Konferenz und eine Publikation zur Aktualität eines anderen Klassikers - Lenin. Es könnte auch ein Beitrag zur Engels-Rezeption von Uljanow mit dabei sein.
>>PS: Was ich für höchst interessant und aktuell dringend nötig halte, wäre eine Konferenz und eine Publikation zur Aktualität eines anderen Klassikers - Lenin. Es könnte auch ein Beitrag zur Engels-Rezeption von Uljanow mit dabei sein.<<
OhOohh - da wird es aber dann sehr konkret. Und sehr eng. Vor allem für die "Linken".
>>Man fragt sich, wie es unter solchen Umständen überhaupt noch Widerstand geben kann. So paradox es klingen mag: Der Vernichtungsmacht kann nicht mehr anders als mit friedlichen Mitteln begegnet werden. Die mächtigsten Staaten sind immer noch parlamentarisch verfasst. Solange sie es sind, ist die Erlaubnis, in ihnen vom Frieden zu sprechen, ihre Schwachstelle.<<
Und? Was ist die Konsequenz?
Zitat: "Die mächtigsten Staaten sind immer noch parlamentarisch verfasst. Solange sie es sind, ist die Erlaubnis, in ihnen vom Frieden zu sprechen, ihre Schwachstelle."
Das Problem an den real existierenden "parlamentarischen" Demokratien ist, dass dort immer mehr "Volksvertreter" sitzen, die mit dem gemeinen Volk bzw. Pöbel, das sie angeblich vertreten, nichts mehr zu tun haben (wollen). In den "demokratischen" Vereinigten Staaten von Amerika (USA) kommen nur noch Bürgerinnen/Bürger in das Parlament, die das nötige "Kleingeld" für den Wahlkampf haben. 15.000 oder 20.000 Dollar reichen dafür leider nicht.
Wer glaubt, dass Multimilliardäre wie Donald Trump die Interessen von Geringverdienern vertreten, glaubt auch daran, dass es Schneewittchen und die sieben Zwerge tatsächlich gibt und Jeff Bezos aka Mr. Amazon ein "Gutmensch" ist, der sich für das Leben seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter interessiert.
Im gelobten Deutschland ist die Demokratie nicht nur "parlamentarisch" sondern angeblich auch noch "repräsentativ". Was daran ist aber noch "repräsentativ", wenn dieses Parlament inzwischen zu 90 Prozent aus sogenannten Akademikern aka "Bildungsbürgern" besteht? Bei Lichte betrachtet handelt es sich mehrheitlich dabei aber nicht um gebildete Bürger, sondern um eingebildete Bürger und Opportunisten, die davon faseln, die Mitte der Gesellschaft zu vertreten, sich aber einen Dreck um Arbeitslose, Hartz IV-Aufstocker, Geringverdiener, Obdachlose usw. scheren und gleichzeitig den Oligarchen aka "Superreichen" ganz tief in den Hintern kriechen.
Wie schnell aus einer "parlamentarischen" Demokratie eine waschechte Diktatur wird, kann man an der Demokratie der Weimarer Republik sehen.
..."Der Vernichtungsmacht kann nicht mehr anders als mit friedlichen Mitteln begegnet werden"...
Mit Harribogummibaerchen?
Alles klar.