Der Freitag ist seit 1990 eine pazifistische Zeitung. Es gibt zwei Versionen von Pazifismus: Ich hielt es immer mit derjenigen, die den Frieden wie auch seine Herbeiführung daran misst, ob Recht oder massives Unrecht geschieht. Fast alle Überlegungen und Differenzierungen jedoch, die ich anstellte, als es um die Sezessionskriege in Jugoslawien, um Somalia, den Kosovo, um Afghanistan und den Irak unter Saddam Hussein ging, können heute, wo wir es mit dem „Islamischen Staat“ (IS) zu tun haben, nicht mehr hinreichend orientieren.
Das heißt nicht, dass ich sie nachträglich für falsch halte. Dagegen, dass die NATO sich das Recht nahm, auch ohne UN-Mandat militärisch zu intervenieren, wo es ihr gefiel, musste man sich auf die UN-Charta berufen. Zugleich musste man deren Unklarheit in mehreren entscheidenden Punkten hervorheben. Einer bestand darin, dass der kriegerische Überfall eines Staates auf einen anderen, wie 1990 des Irak auf Kuwait, als Unrecht galt, gegen das eine internationale Polizeiaktion aufzubieten war. Das war zwar rechtens, hätte aber durch eine UN-Armee geschehen müssen, die es gar nicht gab. Mit der Ersatzlösung, dass wenigstens alle Veto-Mächte im UN-Sicherheitsrat eine solche Aktion toleriert haben mussten, werde sie auch vom Militär bestimmter Staaten unternommen, konnte man sich gerade noch zufriedengeben. Das war ja die Klausel, die wir dem Westen vorhielten, weil er sie im Verlauf der 1990er Jahre aushebelte. Problematisch war aber, dass selbst als sie noch galt, die USA und Europa sie ganz verschieden verstanden. Die USA fanden es richtig, sofort zuzuschlagen, wenn das Unrecht der Aggression geschah; viele Europäer wollten auch dann noch erst einmal verhandeln.
Mit Kriminellen verhandeln?
Ich habe damals, als es um den ersten Golfkrieg ging, die Haltung der USA mit dem Argument Carl Schmitts gerügt, wie es viele Linke taten: Es sei fatal, wenn ein Kriegsgegner wie Saddam als Krimineller hingestellt werde, mit dem man natürlich nicht verhandeln könne. Heute sage ich mir, dass man noch grundsätzlicher widersprechen muss: Selbst wo man glaubt, es mit Kriminellen zu tun zu haben, wäre es nicht richtig, darauf nur mit Bestrafung zu reagieren, sondern zuerst muss gefragt werden, ob es möglich ist, die Ungerechten in Gerechte zu verwandeln. Das ist der Grund, weshalb immer zuerst verhandelt werden muss. Indessen hilft beides nicht gegen den IS, denn der verhandelt weder noch weicht er von seiner Doktrin ab, und sei’s um einen Millimeter. Ohnehin aber passt er gar nicht in die Vorstellung, die sich die Väter der UNO vom kriegerischen Unrecht gemacht haben. Denn er ruft sich zwar als Staat aus, hat aber keine Aggression von außen als schon bestehender Staat gegen andere Staaten unternommen.
Kann man sagen, er habe einen Sezessionskrieg begonnen? Der ist in der UN-Charta rechtlich kaum geregelt. Die Frage muss aber ohnehin verneint werden. Denn der IS hat sich zwar in jenem irakischen Gebiet auszudehnen begonnen, in dem die sunnitische Minderheit lebt, die von der schiitischen Mehrheit kaum an der Macht beteiligt wird. Sein pseudoislamischer Fundamentalismus, seine Grausamkeit und sein Versuch, auch Syrien zu beherrschen, haben aber mit Sezession nichts zu tun. Wie weit wird er noch expandieren wollen? Und der Menschenquälerei, schauen wir ihr nur zu? Doch aus meinen früheren Analysen ersehe ich, dass es selbst hier falsch wäre, einfach militärisch draufzuhauen.
1997
Relaunch Günter Gaus und Christoph Hein bestreiten auf der Leipziger Buchmesse eine Pressekonferenz, stellen ein neues Freitag-Layout vor und äußern sich zum Profil des Blattes. Der einstige Ständige Vertreter der BRD in Ost-Berlin, Günter Gaus, sagt: „Ich finde, dass der Freitag sehr oft nicht langweilig ist, ohne modisch zu sein. An der Zeitung ist außerdem zu loben, dass sie nie konfliktscheu ist.“ Mit dem Relaunch wird die Satirekolumne Ultimo aus der Taufe gehoben, in der zuweilen aus den Tagebüchern Angela Merkels zitiert wird.
Eine Erörterung, die ich während der jugoslawischen Sezessionskriege anstellte, mündet in die Analyse eines Begriffs, um den sich die UN-Charta gar nicht kümmert: Eskalation. Erst in der westdeutschen Friedensbewegung nach 1980 spielte er eine hervorgehobene Rolle. Aus der Zeitschrift kultuRRevolution bezog ich die Einsicht, dass Kriege immer das Ergebnis einer Eskalation sind und selbst zur weiteren Eskalation tendieren. De-Eskalation wurde so zum pazifistischen Zentralbegriff, und meine Analyse begann mit der Forderung, er müsse „möglichst präzise verrechtlicht“ werden. Zunächst bestimmte ich, was beim Eskalieren überhaupt geschieht: Es ist Handeln in einer konfusen Situation und zwar so, dass nach und nach alle Konfusionsmerkmale in Handlung überführt werden. Die Konfusion als solche bleibt dabei bestehen und wird immer größer. Damals, im jugoslawischen Fall, bestand sie darin, dass ein Konflikt der bis dahin bundesstaatlich vereinten Nationalitäten überlagert war von den Folgen harter Sparmaßnahmen, die der Westen verhängt hatte, und der Gefahr des Wiederauflebens früherer Weltkriegsbündnisse (Deutschland gegen Russland mit Serbien). Diese Situation hätte nach und nach zu einem Weltkrieg führen können.
Und so ist es ja heute wieder. Der IS eskaliert durch seine Expansion. Was tut man dagegen? Wenn man sagt, an seiner Existenz sei der Westen schuld, weil es ihn ohne den Irakkrieg und seine Folgen nicht gäbe, ist das zwar richtig, bleibt aber moralisch. Welcher Schluss soll denn daraus gezogen werden? Dass der Westen als Schuldiger nicht helfen darf, es vielmehr um die Beseitigung der Ursachen der IS-Eskalation ginge? Wäre dieser Schluss richtig, würden wir ihn auch in der Flüchtlingskrise ziehen – wir tun es glücklicherweise nicht.
Was wir brauchen, ist eine Eskalationsanalyse, die bis in die absehbare Zukunft reicht. Sie sollte spätestens beim Irakkrieg ansetzen. Darauf muss die Analyse des Eskalationspotenzials und, auf heute bezogen, das Verbot weiterer Eskalationsschritte folgen. In dieser Analyse geht es um die Schuld des Westens und auch darum, ob er überhaupt willens ist, militärisch einzugreifen. Es geht aber auch darum, ob ein solcher Eingriff konfusionsvermehrend und somit eskalierend wäre. Und ja, die Eskalation ginge fort, denn ganz abgesehen davon, dass mit den USA derselbe Westen eingreifen würde, der die Situation herbeigeführt hat, bestünde auch die Gefahr der Konfrontation mit Russland, dem Verbündeten der syrischen Staatsführung.
Unrechtlich-grausamer Friede
Wenn man es so sieht, erscheint die Politik der US-Administration gar nicht so unvernünftig. Dass George W. Bush den Irakkrieg nicht hätte beginnen dürfen, ist auch Präsident Barack Obamas Überzeugung. Der hatte versprochen, US-Soldaten aus allen Kriegsgebieten möglichst zurückzuziehen. Es war richtig, dass seine erste Reaktion auf den Vormarsch des IS darin bestand, die irakische Staatsführung zur Teilung der Macht mit sunnitischen Kräften aufzufordern. Und ebenso richtig ist es, dass versucht werden muss, alle Gegner des IS an einen Tisch zu bringen. Damit ist man noch nicht weit gekommen: Gerade eben erst gelang es, Saudi-Arabien und Iran am selben Ort zu versammeln, und wurde der Widerstand gegen die russische Teilnahme an so einer Konferenz überwunden. Aber Assad und die syrische Opposition fehlten nach wie vor. Bevor all diese Kräfte zu einem Verhandlungsergebnis gekommen sind, kann nicht entschieden militärisch eingegriffen werden. Das würde die Eskalation nur steigern.
Dann aber muss es geschehen. Ein Verhandlungsergebnis, das darin bestünde, den IS nur an der weiteren Expansion zu hindern, wäre zwar selbst mit jenem Pazifismus vereinbar, für den es nicht handlungsleitend ist, ob ein Friede rechtlich oder unrechtlich-grausam ist. Andere jedoch werden sich mit der Kriminalität des IS nicht abfinden. Er hat nur höchstens 30.000 Kämpfer: Wenn die Einigung der genannten Kräfte gelingt und sie dem Spuk dann mit massivem Militäreinsatz ein Ende machen – warum sollte das nicht von pazifistischer Seite begrüßt, ja gefordert werden?
Info
Dieser Artikel ist Teil der Jubiläumsausgabe zum 25. Geburtstag des Freitag
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