So viel Schnee

Das erste Jahr Regeln und Regelverstöße in der Koalition verweisen auf die unterschiedlichen Strategien und Absichten beider Regierungsparteien

Eine Bundeskanzlerin, die ausgleicht, die den Streit ihrer Minister nicht schürt - das reißt manche schon zur Bewunderung hin, andere halten es für ein Zeichen der Schwäche. Weit gefehlt! Es sind die ersten Wochen der Großen Koalition, und wir müssen uns an einen anderen, jedoch nicht ungewöhnlichen, nicht neuen Politikstil gewöhnen. Die Erinnerung an die Große Koalition (1966-69) lehrt die übergreifenden Konstanten. Der ausgleichende Stil war auch dem damaligen Kanzler Kurt-Georg Kiesinger eigen, von dem man sagte, sein Agieren als "wandelnder Vermittlungsausschuss" passe zu seiner schöngeistigen Natur, während man heute meint, das Verhalten Angela Merkels sei so nicht zu erwarten gewesen. Beides mag stimmen, entscheidend ist aber, dass es zu Kiesingers Rolle gehörte und heute zu Merkels Rolle gehört, jeden Anschein zu meiden, den Koalitonspartner öffentlich besiegen zu wollen.

Deshalb springt die Kanzlerin in der Debatte um verlängerte Laufzeiten der Atomkraftwerke nicht ihren Parteifreunden bei, sondern erinnert an den Koalitionsvertrag. Sie hat gar keine Wahl. Überraschend ist nicht einmal, dass sie sich, wie es aussah, im Streit um den Kombilohn der SPD annäherte. Die SPD hatte eher für Mindestlöhne plädiert: Wie Merkel andeutete, könnten auch diese sich als sinnvolles Instrument erweisen. Der Ton liegt auf "auch". Wenn es in einer Frage gegensätzliche Positionen gibt, muss ein Kompromiss auf gleicher Augenhöhe gefunden werden, indem man entweder einen Mittelweg beziehungsweise ein Sowohl-als-auch findet oder aus mehreren Streitfragen eine ausgewogene "Paketlösung" schnüren kann. An diese Regel wird Merkel sich halten, das ist klar und verrät gar nichts über ihre Absichten. Sobald sie sich nicht mehr daran hält, weiß man, sie will die Koalition beenden.

Zu den Regeln gehört auch, dass Vorstöße gegen den Koalitionsvertrag nicht von Bundesministern ausgehen. Unter Kiesinger war klar, dass der damalige Außenminister Brandt eine andere "Ostpolitik" wollte; das sagte er aber nicht, sondern ließ seinen Ministerialdirektor Egon Bahr davon sprechen. So blieb es im Bewusstsein der Öffentlichkeit. In der heutigen Großen Koalition ist es ein wenig anders: Die Vorstöße kommen nicht nur aus der zweiten Reihe. Es sind nicht nur Ministerpräsidenten wie Oettinger, Müller, Stoiber, die eine Renaissance der Atomkraft fordern, sondern auch Wirtschaftsminister Glos, CSU, macht keinen Hehl daraus, dass er auf ihrer Seite steht. Ebenso hat Innenminister Schäuble keine Scheu, den Bundeswehreinsatz im Innern zu fordern. Nun muss man berücksichtigen, dass auch diese Vorstöße insofern nicht gegen den Koalitionsvertrag zielen, als der in den entsprechenden Fragen ja Dissens konstatiert. Den tragen Glos und Schäuble nur aus. Aber dass sie es so demonstrativ und schon in den ersten Wochen tun, ist doch auffällig.

Es ist der Versuch, die SPD zu ersten kleinen Schritten weg von ihrer Linie zu treiben. Jeder Schein eines Anlasses wird genutzt: der Energiestreit zwischen Russland und der Ukraine, der angeblich die Notwendigkeit des Atomstroms zeigt; die nahende Fußball-Weltmeisterschaft, die angeblich des nicht nur polizeilichen, sondern militärischen Schutzes bedarf. Die Klausurtagung der Regierung am Wochenanfang stand schon vor der Frage, ob sich in den verschiedenen Auseinandersetzungen Kompromisse ausmachen ließen. Wie die Dinge liegen, wäre fast jeder Kompromiss ein Stück Aufgabe sozialdemokratischer Positionen gewesen. Vermutlich kommt es so schnell nicht dazu. Nur auf eine Erhöhung des Familiengelds, wie Frau von der Leyen es fordert, mag die SPD sich in Grenzen einlassen. Die Union zielt dabei auf die "Unbeweglichkeit" der SPD - auch die Kanzlerin, obwohl sie den Bogen nie selbst spannen wird -, und es geht dabei letztlich nicht um Fragen eines bestimmten Ministeriums, sondern um das Gesamtziel: neoliberal noch aufgerüsteter in künftige Wahlkämpfe zu ziehen. Die "Beweglichkeit", die auf diesem Feld gemeint ist, wird in den Energie- oder Polizeidebatten schon einmal symbolisch angemahnt.

Es gibt allerdings nicht nur die Streitpunkte, sondern auch eine erkennbare gemeinsame Strategie fürs erste Jahr, von der sich die Partner freilich Verschiedenes erhoffen. Hier endet jeder Vergleich mit Kiesingers Koalition: Während diese durchaus mehrheitlich populär war, regiert ihre heutige Neuauflage mit Hartz IV, höherer Mehrwertsteuer und dergleichen gegen die Bevölkerung, die sich darüber gar keine Illusionen macht. Darauf antworten die Koalitionäre mit ihrer Strategie: Die allgegenwärtigen bösen Erwartungen sollen im ersten Regierungsjahr eingeschläfert werden, erst im zweiten Jahr will man ihnen entsprechen. So wurde ein Investitionsprogramm aufgelegt, ganz als wolle die Regierung den Binnenkonsum stärken - eine von Gerhard Schröder diskriminierte SPD-Politik, nun unter Federführung der CDU-Kanzlerin. Wenn das Programm ein Jahr lang gewirkt habe, sagt die Regierung, hätten die Menschen genug Geld in den Taschen, um die erhöhte Mehrwertsteuer ab 2007 zahlen zu können. Es ist eine ausgekochte Taktik, die nicht wirklich auf segensreiche Effekte jenes Programms hofft, denn dann dürfte es nicht so gering finanziert sein; vielmehr darauf, dass man im Dezember 2006 sagen kann: Seht, die Binnennachfrage ist gewachsen und das liegt am Investitionsprogramm!

Sollte sie wirklich wachsen, wird es eher daran gelegen haben, dass viele Leute ihre größeren Einkäufeauf 2006 vorziehen, um vom niedrigeren Mehrwertsteuersatz zuprofitieren. Diese Einkäufe fehlen dann in den Folgejahren. Zum Zeitpunkt der Steuererhöhung ist das noch nicht zu überblicken. Diese, hofft man, sieht dann erst einmal gerechtfertigt aus. Auch andere, im Koalitionsvertrag bereits festgeschriebene Grausamkeiten wie die Kürzung der Hartz IV-Mittel, werden dann aus der Kiste geholt werden.

Die Strategie des ersten Jahres wird offenbar von allen Koalitionsparteien getragen, doch es ist recht deutlich, dass die SPD andere Absichten damit verbindet als die Kanzlerin. Die SPD scheint mittlerweile einzusehen, dass der Staat nicht noch mehr Steuern an Unternehmer verschenken kann; Äußerungen von Finanzminister Steinbrück deuten darauf hin. In der rot-grünen Zeit verzichtete man auf 60 Milliarden Euro Steuern jährlich, mehr Arbeitsplätze gab es trotzdem nicht.Die Steuergeschenke führten jedoch dazu, dass der Staat nun kaum noch seine Aufgaben lösen kann. Dass damit der Neoliberalismus widerlegt ist, will die SPD allerdings nicht wahrhaben. Sie ist nur desillusioniert; sie sucht nicht nach besseren Alternativen. Ihr geht es nur noch darum, den Staatsbankrott abzuwenden. Die Grausamkeiten gegen sozial Schwache, die sie mittragen wird, werden diesem Ziel dienen. Frau Merkel indessen glaubt immer noch an einen Zusammenhang von Steuersenkungen und neuen Arbeitsplätzen. Es ist ja erst wenige Monate her, dass sie den Entsteuerungs-Experten Paul Kirchhoff in den Wahlkampf schickte. Sie will die Bevölkerung auf andere und größere Grausamkeiten vorbereiten als die SPD.

Das Projekt der Mehrwertsteuer-Erhöhung war Merkels Idee im Wahlkampf gewesen. Gut möglich, dass ihr da schon in einer Frühfassung die "Strategie des ersten Jahres" vorschwebte: mit dem Ertrag der Mehrsteuern die Wirtschaft symbolisch ankurbeln, um Steuersenkungen hinterherzuschicken. Die SPD hätte dann den ersten Teil der Idee gebilligt und mit dem Investitionsprogramm, das ja eher sozialdemokrtische Handschrift zeigt, Entscheidendes für seine falsche Glaubwürdigkeit getan.

All dies mündet in ein harmlos scheinendes Jahr 2006, in dem die Kanzlerin Stimmung für sich machen kann. Ihre Umfragewerte sind gut. Sie beginnt ein Beliebtheitskapital aufzuhäufen, von dem sie hofft, dass es später nicht gänzlich abschmilzt. Dabei sind Investitionsprogramm und vorläufige Avancen für den Mindestlohn nicht die einzigen Mittel. Merkel kann sich auch an Schröder orientieren: Sie punktet außenpolitisch. Wenn Schröder vor dem nächsten USA-Besuch die Schließung des KZs Guantanamo verlangt hätte, wäre in der Union wahrscheinlich ein Sturm der Entrüstung losgebrochen. Wenn Merkel dies macht, sind alle erleichert. Also, da mischt sie sich gute Karten. Aber man denke hier noch einmal an die erste Große Koalition: Auch Kanzler Kiesinger war höchst populär. Denn nur die 68er nahmen ihm seine Karriere in der NSDAP übel. Halten konnte er sich trotzdem nicht, und das, obwohl er gar keine Grausamkeiten plante. Was Merkel angeht, mag es ausgehen wie in jenem Brecht-Gedicht, das ich etwas verändert zitiere: Wenn die Regierung heute Stimmung macht, um ein Zuneigungspolster anzulegen, hoffend, es möge von späterer Grausamkeit nicht zerfressen werden, gleicht sie einem Mann, der, die verschneite Halde betrachtend, sich die Hände reibt und sagt: Wie werde ich es im Sommer kühl haben bei so viel Schnee.


Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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