So war es nie gemeint

Bundesversammlung „Gebt die Wahl frei“, fordert Kurt Biedenkopf. Doch das ist weniger Ausdruck demokratischer Gesinnung als ein Zeichen schwarz-gelber Untergangsstimmung

Im Vorfeld der Bundespräsidentenwahl wird wieder einmal diskutiert, ob die Parteilichkeit und gar der Fraktionszwang von Abgeordneten, die eigentlich "das Volk" repräsentieren sollen, nicht die demokratische Idee ad absurdum führe. Der Grund ist, dass der Kandidat Joachim Gauck, aufgestellt von Grünen und SPD, auch in Union und FPD viele Anhänger hat, weshalb die Bundeskanzlerin schon fürchten muss, ihr eigener Kandidat Christian Wulff könne in der Bundesversammlung beschädigt werden durch viele Gegenstimmen aus dem eigenen Lager. In diese brisante Situation hat Kurt Biedenkopf, der frühere sächsische Ministerpräsident, noch Öl gegossen, indem er Angela Merkel in einem Gastbeitrag der FAZ aufforderte, die Abstimmung der Unionsabgeordneten freizugeben.

Man wird fragen dürfen, ob die hehre Prinzipienreiterei, mit der man uns die Mängel des Parteienstaats vorrechnet, nicht selbst ein parteiliches Interesse spiegelt. Denn die Abstimmung soll nicht einfach frei sein, sie soll für Gauck frei sein. Warum denn nicht für Wulff? Es könnte wirklich mit gleichem Recht eine Aufforderung an grüne und SPD-Abgeordnete ergehen, Wulff zu wählen statt Gauck, weil der Mann als niedersächsischer Ministerpräsident versucht habe, für alle Bürger Politik zu machen statt nur für die, die ihn gewählt haben. Das wäre nicht einmal ganz falsch, weil man natürlich beobachten konnte, wie Wulff, der vor dem Amtsantritt einer der schärfsten neoliberalen Antreiber der Union gewesen war, sich danach zum ecken- und kantenlosen Landesvater stilisierte. Dass Wulff praktizierender Politiker ist und Gauck nicht, kann ja wohl nicht im Ernst gegen ihn sprechen, und das Argument, nur ein solcher halte dem öffentlichen Druck stand, ein politischer Laie wie Horst Köhler oder jetzt Gauck aber viel weniger, ist auch nicht gerade absurd. Nein, auch wenn man, wie der Schreiber dieser Zeilen, für Wulff gar keine politische Sympathie hegt, kommt man nicht umhin zu argwöhnen, dass die Diskussion über die "Gewissensfreiheit der Abgeordneten" viel eher Ausdruck einer Untergangsstimmung der in Berlin herrschenden Regierungskoalition ist, als dass sie von tiefer demokratischer Gesinnung herrührte.

Dennoch ist die Demokratiedebatte wichtig, und nicht nur deshalb, weil man sie nicht oft genug führen kann. Da wäre nämlich zu fragen, was es eigentlich heißt, "das Volk zu repräsentieren". Was man heutzutage über die Gewissensfreiheit von Abgeordneten liest, hat oft mit Demokratie recht wenig zu tun. Man denke nur an die vier Abtrünnigen bei der Ypsilanti-Wahl: Es herrscht die Vorstellung, das Gewissen der Abgeordneten sei dazu da, die jeweilige atomistische Privatheit zu zelebrieren und alle Bürger daran teilnehmen zu lassen – ungefähr als hätten sie das Mandat, sich zum Stoff von Reportagen in der Illustrierten zu machen. So war es doch wohl nie gemeint. Der Abgeordnete soll nicht gewissenhaft prüfen, was er selbst will, sondern was "das Volk" von ihm erwartet. Und "das Volk" teilt sich nun einmal in Parteien. Parteien sind keine Erfindung von Politiktheoretikern: Es gibt sie wirklich. Das heißt: Wenn es das Gewissen ist, das vielleicht einige Unions- und FDP-Abgeordnete zur Entscheidung für Gauck veranlasst, dann hat es ihnen offenbart, dass auch sehr viele Unions- und FDP-Wähler über die Politik der Bundesregierung empört sind. Folgten sie der Stimme dieses Gewissens, wäre es in der Tat eine demokratische Glanzleistung.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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