Sprünge über die Zeit

Musikfest 2016 Die Festwochen werden mit Wolfgang Rihms Ritual-Musik "Tutuguri" eröffnet. Auch andere Komponisten greifen in die Vergangenheit zurück oder in die Zukunft voraus

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Wolfgang Rihm
Wolfgang Rihm

Foto: Kai Bienert

Wer Musik hört, muss sich auf alles gefasst machen. Könnte doch manches Werk sprechen wie Kierkegaard: „Das Unproportionierte in meinem Bau ist, dass meine Vorderbeine zu klein sind. Wie der Hase von Neu-England habe ich ganz kleine Vorderbeine, aber endlos lange Hinterbeine. Gewöhnlich sitze ich ganz still; mache ich eine Bewegung, so ist es ein ungeheurer Sprung, zum Entsetzen aller derjenigen, mit denen ich durch die zärtlichen Bande der Verwandtschaft und der Freundschaft verknüpft bin.“ Die kleinen Vorderbeine, erläutert der dänische Philosoph, sind seine Hoffnungen. „Ich springe dann über die ganze gegenwärtige Zeit, das gegenwärtige Leben, kurz alles Gegenwärtige hinweg ...“ Mit den Hinterbeinen.

Das diesjährige Berliner Musikfest vom 2. bis 20. September hat kein Gesamtthema. Die offizielle Ankündigung verweist auf „zahlreiche Themenstränge“: Drei Konzerte nehmen auf das „deutsch-mexikanische Jahr 2016“ Bezug, indem sie auch Südamerika einbeziehen (Heitor Villa Lobos‘ Bachianas Brasileiras Nr. 2); zur „Musik aus Hollywood“ gehören nicht nur Filmmusicals von Irving Berlin über George Gershwin bis Cole Porter, sondern auch das vollständig aufgeführte Filmepos Iwan der Schreckliche von Sergej Eisenstein mit der Musik von Sergej Prokofjew; es gibt eine Konzertreihe auf den vor zehn Jahren verstorbenen György Ligeti, auch der in diesem Jahr gestorbene Pierre Boulez wird gewürdigt; und anderes. Auf all diese Themen werde auch ich in meiner diesjährigen Begleitung Bezug nehmen, doch fügt sich meine Auswahl der Konzertabende zu einem einzigen Thema zusammen, das ich „Sprünge über die Zeit“ nenne. Es hat sich mehr zufällig ergeben, denn eigentlich habe ich nur gewählt, was mich besonders interessiert oder was ich auch einmal - oder unbedingt ein weiteres Mal - im Konzertsaal hören wollte. Ich stellte dann nachträglich fest, dass sich meine Hits als „Sprünge über die Zeit“ thematisch überschneiden.

Gleich das morgige Eröffnungskonzert hat diesen Sprungcharakter. Wolfgang Rihms Poème dansé Tutuguri lässt sich von Antonin Artauds Reise zu den mexikanischen Tarahumaras inspirieren. Artaud, der das „Theater der Grausamkeit“ postulierte, hoffte im Ritual dieses Stammes eine ursprüngliche Wahrheit zu finden und Rihm griff darauf nicht zufällig Anfang der 1980er Jahre, zur Zeit der Raketenstationierungskrise also, zurück. Aber das ist nur eine Art, „über die Zeit zu springen“. Wenn Dmitri Schostakowitsch den Karneval beschwört, dann eher den mittelalterlichen, den sein Landsmann Michail Bachtin erforscht hat, als den rheinischen unserer Tage; das verschreckend Groteske hat bei ihm dieselbe Funktion wie in Bulgakows Roman Der Meister und Margarita, es ist auch beidemale die Stalin-Ära, von der aus die Künstler zurückgreifen. In der Stalin-Ära entstand auch Eisensteins Film, der aber spielt deshalb in der Vergangenheit, weil Eisensteins Credo, mit dem Mythischen zu arbeiten, für Sujets seiner sowjetischen Gegenwart kunstpolitisch nicht geduldet wurde. Dass es Parallelen zwischen Stalin und Eisensteins Iwan geben möchte, fiel den argwöhnischen Kunstwächtern trotzdem auf.

Wieder ganz anders greift Antonin Dvorak in die Vergangenheit: Er beschwört eine tschechische Ursprungsnation als verlorenes Paradies, um das Recht der nationalen Selbstständigkeit zu behaupten. Dvorak springt mit den Vorderbeinen. Das ist durchaus auch musikalisch interessant, schon weil man zuhörend zum Zeugen einer noch gelingenden Zielstrebigkeit wird; dem Zeitgenossen Johannes Brahms, der Dvorak so sehr bewunderte, standen vergleichbare Ziele nicht mehr zur Verfügung. Und was beschwört Olivier Messiaens Turangalila-Sinfonie? Titelgebend ist ein Wort aus dem Sanskrit. Von seinem Schülers Pierre Boulez scheint es zunächst, als negiere er den Zeitbezug vollkommen. Boulez wollte ja, dass seine Musik an nichts Traditionelles erinnern solle, da er der Tradition eine Mitschuld am NS zusprach. Aber das bedeutet nur, dass er zeitlich voraussprang statt zurückzuspringen.

Schließlich noch, als Farce gleichsam, die der Tragödie zu folgen pflegt, Richard Strauss: Sein Gestus ist, sich des Lebens zu freuen und darum, so buchstabiert er, die Gegenwart zu genießen; trotzdem ist auch ihm die Eröffnung des Neuen wichtig, nur dass er kein Schwarzseher ist und nicht glaubt, man müsse springen, um im Neuen anzulangen. Es soll sich vielmehr wie das Kind zur Mutter und vor allem zum Vater verhalten. Ob er da Nietzsche, seinen Helden, gut verstanden hat? Doch artikuliert er ja musikalisch und gute Musik ist immer faszinierend.

Ich könnte auch das Komma einsetzen: „Sprünge, über die Zeit“. Das würde bedeuten, die musikalischen Sprünge sind auch eine Art der Reflexion - wie Musik, selber aus Zeit bestehend, Zeit begreift. In diesem Sinn käme man wohl am Ende zu dem Schluss, dass alle Musik nicht nur zeitlich sondern auch „über die Zeit“ geschrieben ist, springend oder den Sprung gerade scheuend. Wir werden sehen.

Berichte über die Berliner Festivals "MaerzMusik" und "Musikfest" ab 2010 finden Sie hier.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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