Staatsfeind Nr. 1

DDR Friedrich Schorlemmers politische Autobiografie zeigt uns einen Menschen, der die Kraft des Symbolischen erkannt hat
Friedrich Schorlemmer hört genau zu, was der Schabowski da sagt: Berlin Alexanderplatz, 4. November 1989
Friedrich Schorlemmer hört genau zu, was der Schabowski da sagt: Berlin Alexanderplatz, 4. November 1989

Foto: Jandke/Caro/Ullstein

Friedrich Schorlemmer, der evangelische Pfarrer im Ruhestand und frühere Bürgerrechtler der DDR, hat eine Bilanz seines politischen Lebens vorgelegt. Diese Autobiografie war notwendig, denn man weiß nicht genug von Schorlemmer, wenn man nur weiß, was in den Zeitungen stand: dass er 1983 im Lutherhof zu Wittenberg ein Schwert zur Pflugschar umschmieden ließ, 1989 zu den Rednern der Kundgebung vom 4. November auf dem Alexanderplatz gehörte und 1993 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels erhielt. Nein, es lohnt zu wissen, wie er gedacht hat und sein Pfarramt für die tagtägliche politische Auseinandersetzung zu nutzen verstand. Denn man kann von ihm lernen.

Was ihn der SED gefährlich machte, so sehr, dass ein Stasi-Papier ihn als „Staatsfeind Nr. 1“ aufführt, war seine Fähigkeit, politische Themen und Widersprüche durch Symbolhandlungen zu illustrieren. Sicher hat ihn die Bibel ermutigt, die ja eine Fülle von Symbolhandlungen verzeichnet. So veranlasst der Prophet Jeremia einige Älteste und Priester dazu, mit ihm, der einen Krug in der Hand hält, zu einem nahegelegenen Tal zu ziehen. Dort angekommen, zerbricht er den Krug und verkündet das Wort seines Gottes, ebenso werde Jerusalem zerbrochen und das Tal werde die Toten nicht fassen. Man könnte das abtun und sagen, der Mensch von heute denke nicht mehr in Bildern. Aber warum sind wir dann so auf Filme versessen? Warum können uns Bilder, die das Fernsehen auswählt und zeigt, politisch so stark beeinflussen?

Dürrenmatt nachgespielt

Bei Schorlemmer traf manches zusammen, ihm das Gespür für die Kraft der Bilder zu geben. Zum einen zog ihn im Studium die Theologie Rudolf Bultmanns an, der gelehrt hatte, die Bibel müsse „entmythologisiert“ werden. So nahm er biblische Metaphern nicht für bare Münze, war dann aber umso sensibler für den Verlust, den ein „Bilderverbot“ mit sich bringen würde. Zum andern liebte er ohnehin die Kunst und verstand es, ihr Botschaften und Anregungen abzulesen. Wenn er zum Beispiel von den Theateraufführungen Ariane Mnouchkines auf Pariser öffentlichen Plätzen schwärmt, in denen die Große Revolution nachgespielt wurde und „Geschichte einem Volksfest glich“, fügt er hinzu, „das Theatralische im besten Sinne des Wortes“ habe auch die Kundgebung vom 4. November 1989 geprägt. „Brecht“, schreibt er, „sah in der Freundlichkeit eine philosophische Kategorie, der Blick in ein gütiges Gesicht war ihm der Blick in eine ‚schöne Gegend‘. An diesem Novembertag war der totbetonierte Berliner Alexanderplatz die schönste Gegend der DDR.“

Jene Schwertaktion zeigt deutlich, dass Symbolhandlungen auch heute noch politische Sprengkraft entfalten können. Jahrelang hatte Schorlemmer dafür geübt. Eine Mauer aus tapezierten, beschrifteten Obstkisten hatte er zum Beispiel gebaut, ein Tor durch sie gebahnt und es durchschritten. Sein Publikum war zunächst die Studentengemeinde. Mit der spielte er auch Dürrenmatts Drama vom Herkules nach, der den Augiasstall ausmistet. Die Schwertaktion fand dann unter den Augen der Westpresse statt. Sie war wohlüberlegt, weil sie sich zwar gegen die Stationierung sowjetischer SS 20-Raketen richtete, auf die Sowjetunion aber auch berufen konnte. Denn die hatte längst vor der Umschmiedung ein Mahnmal vor dem UN-Gebäude in New York gesetzt.

Grundlegende Wende

Natürlich hätte Schorlemmer nichts ausrichten können, wären nicht die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa und überhaupt die Entspannungspolitik des Westens vorausgegangen. Infolge der „KSZE-Akte“ mussten sich die Warschauer-Pakt-Staaten in der Repression von Kritikern gewisse Zügel anlegen. Im Übrigen war Schorlemmer durch seine Kirche geschützt. Trotzdem waren seine Handlungsmöglichkeiten eng begrenzt, und er hat mit dem kleinen Pfund zu wuchern verstanden. Dass seine Aktion den Auftakt zur Entstehung vieler Friedensgruppen in der DDR bildete, denen die Kirche Obdach gab, ist bekannt, weniger aber, dass hiervon eine prägende Wirkung noch auf die Wende von 1989 ausging. Aus solchen Gruppen gingen die Anführer der Revolution hervor, die auch deshalb friedlich blieb, weil die Anführer den Frieden eingeübt hatten.

Auch das kirchliche Gebot, „die Feinde zu lieben“, war wichtig. Auf den Sturz der SED-Herrschaft arbeitete Schorlemmer hin, doch nicht um dann gnadenlos mit ihren Mitgliedern zu verfahren. Vielmehr meinte er, die neue demokratische Herrschaft müssen mit ihnen zusammenarbeiten. Über den Umgang mit dem Erbe der Diktatur hatte es bereits 1988 Debatten in seiner Kirche gegeben. Dabei „schwebte“ Schorlemmers Gruppe „so etwas wie die Kommissionen für ‚Wahrheit und Versöhnung‘ in Südafrika vor“. In diesem Geist berichtet er von widerwärtigen Stasi-Praktiken, aber auch von einem Kollegen, dem IM „Bernstein“, der ihn nie verriet, ja an den er sich „besonders dankbar“ erinnert.

Indessen ist die Haltung seiner Kirche schon zu Zeiten beeindruckend, wo sie noch gar nicht erwartet, dass die SED-Herrschaft bald enden könnte. Denn immer lässt sie ihre Gegenposition erkennen, obgleich sie auch immer mit dem Staat dialogisiert. Da gab es dann welche wie Manfred Stolpe, den späteren Ministerpräsidenten von Brandenburg, der den Dialog führte, in der Kirche zur Vorsicht und Zurückhaltung aufrief und doch auch über Schorlemmer seine schützende Hand hielt. Man fragt sich am Ende: Warum sind nicht auch die Kirchen der Bundesrepublik zu so einer Politik fähig?

Sie könnten den maroden Kapitalismus geißeln und so höflich wie klar eine andere Gesellschaft fordern. Auch von ihnen könnten Symbolhandlungen ausgehen, die den Menschen die Unerträglichkeit gewisser Verhältnisse provokant vor Augen führen. Und warum reden die Pfarrer nicht, wie Schorlemmer geredet hat? „Wer aber die Zuversicht verloren hat, der tut nichts mehr. Er wartet auf das Nichts“, sagte er 1988 auf einer Ökumenischen Versammlung. Da befand man sich schon im Vorfeld der Revolution. 2012 schreibt er: „Eine grundlegendere Wende als in jenem Herbst steht uns ins Haus.“

Friedrich Schorlemmer Klar sehen und doch hoffen. Mein politisches LebenAufbau 2012, 523 S., 22,99 €

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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