Staatskunst der Gipfeltreffen

Regierungsmechanik Von der informellen großen Koalition zur informellen Unionsregierung

Besonders wer von den SPD-Bänken aus auf die Regierung schaut, wird glauben können, er sehe eigentlich zwei Regierungen, zwei Kanzler, ja zwei Kanzlerämter, die wöchentlich verhandeln. Diesen Eindruck haben Schröder und Müntefering erzeugt. Es blieb nicht dabei, dass Schröder noch im Abtreten die Koalitionsverhandlungen dominierte und sogar behauptete, er könne und müsse Kanzler bleiben. Aus der Legende, etwas wie ein Mit-Kanzler, also weit mehr als nur Vizekanzler zu sein, machte dann Müntefering ein Organisationsmodell. Er führte die Regelung ein, dass alle SPD-Bundesminister sich vor den Kabinettssitzungen unter seiner Leitung regelmäßig treffen und absprechen. Die Unionsseite sah sich genötigt, das Gleiche zu tun. So gibt es allwöchentlich zwei Teilkabinette vor dem Kabinett; wenn sie getagt haben, tauschen Müntefering und Merkel die Ergebnisse aus, und dann erst tagt das Kabinett, manchmal mit ad hoc veränderter Tagesordnung. In seinem Teilkabinett tritt Müntefering selbstherrlich auf wie einst Schröder in der rot-grünen Regierung. Wenn er einen Vorstoß macht, etwa: Die Rente mit 67 soll früher eingeführt werden, sagt er es zuerst der Presse.

Nicht alles, was sich um diesen scheinbaren Doppelregierungskern herum gruppiert, ist das Ergebnis seiner Voraussicht gewesen. Doch was bisher spontan hinzukam, rundet den "Regierungsstil" des Vizekanzlers nur ab. So waren Parteivertreter auf Unions- wie SPD-Seite nicht still geblieben, nachdem das Kabinett sich auf einen Gesetzesentwurf zu den Kinderbetreuungskosten schon geeinigt hatte. Schließlich äußerte sogar der CSU-Vorsitzende Stoiber Kritik; daraufhin ging auch der SPD-Vorsitzende Platzeck auf Distanz. Und das, obwohl man beide in die Gesetzesberatung einbezogen hatte. Aber nun gab es ferner die Einrichtung des wöchentlichen Treffens der Fraktionsvorsitzenden zu Beginn jeder Bundestags-Sitzungswoche: Hier werden, wie sich in diesem Konfliktfall erstmals bewährte, die Kompromissformeln gefunden. Müntefering wäre es wohl freilich lieber gewesen, aus seiner Partei würde überhaupt niemals ein Einwand gegen Regierungspläne laut. Deshalb hatte er ja seinen Vertrauten Wasserhövel zum Generalsekretär machen wollen. Doch da das nicht gelang, kann er zufrieden sein, dass wenigstens eine belastbare Rückkopplungsschleife entstanden ist. Wasserhövel arbeitet jetzt in Münteferings Ministerium und ist etwas wie ein "Vizekanzleramtschef" geworden.

Wenn ein größeres Reformprojekt vorzubereiten ist, wird die scheinbare Doppelherrschaft durch "Gipfeltreffen" mit zusätzlichen Teilnehmern ergänzt. So traf sich zur Gesundheitsreform ein so genanntes "Siebener-Format", das aus den zwei Regierungs-, zwei Fraktions- und drei Parteispitzen bestand - zu dem also weder der Kanzleramtsminister noch die Gesundheitsministerin Zutritt hatte. Mit der Letzteren führte Merkel vorher ein Vier-Augen-Gespräch; das heißt, Ulla Schmidt war immerhin "angehört" worden. Man versteht bei solcher Praxis besser, weshalb die Minister dieser Regierung sich gelegentlich ein paar kleine Gefechte liefern dürfen, wie Glos und Gabriel um die Atomenergie oder Schäuble und Jung um den Bundeswehreinsatz bei der Fußballweltmeisterschaft. Sie spielen einfach nicht so eine große Rolle, sie verschwinden hinter den "beiden Kanzlern". Vielleicht mit Ausnahme Steinbrücks, des Finanzministers, dem die Verfassung ein Vetorecht in Finanzfragen einräumt. In einer großen Koalition bedeutet das echte Macht: Die Kanzlerin kann ihn nicht entlassen, obwohl sie die formelle Befugnis hat, und Müntefering, der sie nicht hat, kann es deshalb auch nicht. Wer weiß, ob Steinbrück seine Macht nicht einmal ausspielt - gegen Müntefering.

Man hat von vielen "Gipfeln" gehört; sie trüben geradezu den Blick für die Regierungsmechanik, da sich ganz Verschiedenes unter dem Titel sammelt. Auch ein "Kindergipfel" war zeitweise geplant, er wäre wohl ähnlich zusammengesetzt gewesen wie der "Gesundheitsgipfel". Gerade eben fordern die Unionsparteien einen "nationalen Integrationsgipfel", in ihm würden Bund- und Ländervertreter zusammentreffen. Der "Energiegipfel" wiederum, der letzten Montag tagte, setzte die Schröder-Tradition der Konsensgespräche fort. Hier war Müntefering einmal nicht dabei, sondern Merkel präsidierte allein und empfing neben den zuständigen Fachministern vor allem Industriechefs. So sieht man vor lauter Gipfeln den Wald nicht mehr. Und was noch schlimmer ist, man hat den wichtigsten Gipfel vergessen. Das war der "Jobgipfel" des vergangenen Jahres.

Hier blicken wir nämlich hinter den Vorhang der "beiden Kanzler". Damals war Schröder noch im Amt, hatte aber die Gestaltungsmacht schon verloren und musste sich informell bereits zur großen Koalition bequemen. So tagte denn eine Dreierrunde, bestehend aus Schröder, Merkel und Stoiber, und der Vierte, Joschka Fischer, wird nicht gestört haben bei den Beschlüssen. Man nahm Teile des Programms der formellen großen Koalition vorweg: Die Unionsseite stimmte einem Konjunkturankurbelungsprogramm zu, die SPD-Seite akzeptierte den "Bürokratieabbau". Einiges, wie die Föderalismusreform, forderte man damals vergeblich, auf anderes, wie den Abbau des Kündigungsschutzes, konnte man sich noch nicht einigen. Später aber, in den formellen Koalitionsverhandlungen, hat die SPD auch dieser Forderung teilweise nachgegeben. Sie tat es im Bestreben, ein "bis hierher und nicht weiter" zu markieren.

Die Dynamik der vergangenen Wochen holte sie auf den Boden der Tatsachen zurück. Noch war Münteferings Ministerium dabei, die von ihm gar nicht gewollte Lockerung des Kündigungsschutzes in Gesetzesform zu gießen, da kam aus der Union schon Kritik, der Koalitionsbeschluss gehe nicht weit genug. Der "Zweitkanzler" reagierte wieder über die Presse, stimmte sein Teilkabinett ein, handelte mit Merkel eine neue Tagesordnung aus: Die Gesetzesvorbereitung werde gestoppt, bis eindeutig zugesagt sei, dass es ganz genau beim Koalitionsvertrag bleibe. Merkel sagte das natürlich zu, sie rief sogar ihre Parteifreunde auf, sich mit der Kritik zurückzuhalten. Doch hat Müntefering nicht selbst jenen Vertrag überschritten, als er forderte, die Einführung der Rente mit 67 zu beschleunigen? Und was hat denn die SPD durch Merkels Zusage gewonnen?

Gar nichts, denn dass die Union im neoliberalen Durchmarsch die Nase vorn hat, die SPD zögerlich hinterher hechelt, mit Wut im Bauch, aber in freiwilliger Ohnmachtshaltung, das ist ohnehin die Situation seit vielen Jahren. Da kann Müntefering noch so viel "Doppelherrschaft" spielen - es bleibt doch eine Komödie. Gegen eine Strategie, der man keinen anderen Weg entgegensetzt, lässt sich nun einmal nichts ausrichten. Gewiss kann man ihren Erfolg verzögern, aber Verzögerung führt letztlich auch zum Ziel. Das zeigt jedes Ritardando einer Symphonie. Merkel aber kann sich nichts Besseres wünschen als Münteferings "Gegenmacht". Denn so kann sie immer wieder behaupten, die SPD sei schuld daran, dass die Strategie ihren Segensreichtum nicht zeige. Nur wenn Merkels Marsch derart behindert wird, ist er hinreichend verhüllt und öffentlich akzeptabel, nur dann kann er überhaupt fortgeführt werden.


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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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