Stark und schwach in einem

Käßmann sagt ab Manche, die zurückgetreten sind, wissen nur noch nicht, dass es ihnen bestimmt ist, wiederzukehren

Margot Käßmanns Fehltritt ist nicht nur aus „menschlichen“ Gründen und wegen der kirchenpolitischen Folgen interessant, sondern weil er Licht auf eine besondere Gruppe öffentlicher Personen wirft. Käßmann gehört zu denen, die sich quer zum Mainstream positionieren, unter ungeheurem öffentlichem Druck stehen, allein durch ihre Persönlichkeit etwas bewirken und sich in Ämtern oder anderen Machtpositionen wenn überhaupt, dann nur zeitweise behaupten. Weil einige dieser Merkmale oder alle zusammen auf so verschiedene Personen wie Käßmann, Lafontaine, Ypsilanti, Platzeck und den früheren IG Metall-Vorsitzenden Jürgen Peters zutreffen, kann es sich nicht bloß um ein Nebeneinander überraschender Schicksale handeln. Eines ist ihnen allen gemeinsam: politische Wirksamkeit trotz oder wegen eines Ineinanders von Stärke und Schwäche im teils selbst gewählten, teils von außen aufgezwungenen Agieren. Wäre es Absicht, hätte es sein Vorbild in der abgebrochenen Kanzlerschaft Willy Brandts.

Käßmann gehört in diese Reihe, obwohl ihr Straucheln auf den ersten Blick rein zufällig wirkt. Alkohol am Steuer, rote Ampel überfahren – natürlich musste sie da zurücktreten. Es ist schon einmal bezeichnend, dass manche regierungsnahe Medien ihren Rücktritt als eine Art Amtsflucht kritisieren, wie sie das in weit schrillerem Ton auch taten, als Oskar Lafontaine 1999 das Bundesfinanzministerium verließ. Margot Käßmann wusste jedoch wie der damalige SPD-Vorsitzende, was sie sich schuldig ist, und so schwach sie in ihrem Delikt erscheint, so stark zeigte sie sich in der Konsequenz, die sie zog. Sie hatte keinen Regierungs-, Partei- oder Gewerkschaftsvorsitz inne, sondern führte einen Verbund von Kirchen: Da kommen andere Bedeutungen von stark und schwach ins Spiel als sonst.

Heidnische Heiligkeit

Die Einsicht in die eigene Schwäche macht so sehr die christliche Existenz aus, dass viele gerade deshalb meinten, Käßmann könne ihr Amt mit Gottes Verzeihen weiterführen, simul iustus et peccator nach dem Lutherwort, Sünderin zugleich und gerechtfertigt. Doch dann müsste das christliche Amtsverständnis noch übers Neue Testament hinaus radikalisiert werden, wo man zwar liest, dass Petrus, der Feigling und Leugner, zum Fels der Kirche bestimmt wurde, wo es aber zuletzt doch die Sittsamkeit ist, in der die Bischöfe und sogar noch ihre Familien ein Vorbild abgeben sollen.

Hierin deutet sich das Dilemma schon an, dem die entstehende Kirche Tribut zahlen musste: Darauf aus, dem Staat die heidnische Heiligkeit zu nehmen, musste sie sich mit ihm vergleichbar organisieren, um überhaupt, wie man heute sagt, kommunikativ anschlussfähig zu sein. Seit damals ist das Bischofsamt etwas Ähnliches wie ein politisches Amt: Dessen Logik verlangt standfeste Härte und deshalb die Fähigkeit, sich keine Blöße zu geben. Das ist mit christlicher Existenz völlig unvereinbar, aber es ist so und ist bis heute so geblieben. Käßmann war aber dadurch standfest, dass sie ihre Authentizität als exemplarische Privatperson und als Christin wahrte, und das Amt dafür preisgab.

Hier liegt die Parallele zum Amtsverzicht Lafontaines: Bei dem war es, christlich gesprochen, nicht Ungerechtigkeit, sondern Rechthaben, was ihn nötigte, das Schröder-Kabinett zu verlassen, aber gerade dadurch blieb er als Parteipolitiker authentisch, wie jetzt Käßmann als öffentlichkeitswirksame Stimme einer Christin authentisch bleibt. Menschen wie Lafontaine und Käßmann haben vieles gemeinsam: Sie sind Neinsager, stark genug, sich dem allfälligen Opportunismus zu entziehen; der Druck, der auf ihnen lastet, gräbt Spuren in ihren Charakter; sie widerstehen dem Druck um den Preis von Angreifbarkeit, weshalb sie eben nur zeitweilig Amtsträger sein können; und diese gewaltige Anstrengung müssen sie aufbringen, obwohl sie nicht einmal „Revolutionäre“ sind. Deshalb gehört auch das noch zu ihrem Weg, dass Menschen, die sich für radikal halten, ihnen die Anerkennung verweigern. Wie sehr konnte man, wenn man wollte, die Inkonsequenz und Lauheit Käßmanns in ihrer Haltung zum „herrschenden System“ rügen! Das schlug auch Lafontaine entgegen, bevor er die Gründung der Linkspartei anstieß. Man durfte ihn nicht „überschätzen“, nicht „idealisieren“, durfte nicht vergessen, dass er in den achtziger Jahren zum Lohnverzicht aufgerufen hatte; auf keinen Fall durfte man seine Standfestigkeit loben.

Zwischen den Stühlen der politischen Gegner und derer, die abwarten, bis sich die wahre Radikalität zeigt, sind solche Menschen doppelt einsam. Und doch weichen sie ihrer Aufgabe nicht aus. Manche von denen, die zurückgetreten sind, wissen vielleicht nur noch nicht, dass es ihnen bestimmt ist, wiederzukehren. Sollte es zur politischen Krise kommen, wer ist dann glaubwürdig, auf wen werden sich die Blicke richten? Vielleicht auch auf Margot Käßmann.

Der digitale Freitag

Mit Lust am guten Argument

Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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