Target-Salden sind ein Effekt des europäischen interstaatlichen Verrechnungssystems der Banken. Es ist schwer, sie verständlich zu machen. Erstaunlich genug, dass ein Buch, in dessen Zentrum die Beschwörung der von ihnen ausgehenden Gefahren steht, ein so großes Publikum erreicht und in die Spiegel-Bestsellerliste kommt.
Der Autor, Hans-Werner Sinn, Präsident des Münchener Ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung, ist ein Rechter. Er hängt der Lehre an, die man Neoklassik nennt. Für ihn ist die Welt in Ordnung, wenn Griechen, Spaniern, Italienern zur Erreichung des volkswirtschaftlichen Gleichgewichts die Löhne und Altersrenten gekürzt werden. Zu einer normal funktionierenden Ökonomie, meint er, gehöre der Crash („Nach dem
e der Crash („Nach dem Gewitter hätte die Sonne alsbald wieder geschienen“). Er meint natürlich nicht Deutschland. Der Crash kann anderswo stattfinden. Deutschland bekomme südeuropäische „Bettelbriefe“, weil es „aus historischen Gründen empfänglicher für Druck ist als andere Länder“.So kennen wir ihn. Doch Sinn ist für Überraschungen gut. Er empfiehlt die Lohnsenkung dann doch nicht. Er weiß und spricht aus: Was Deutschlands Regierung heute von den Südländern verlangt, ist nichts anderes als die Politik des Reichskanzlers Brüning, dem bald Hitler folgte. Vor diesem Hintergrund bildet sich eine Linie, die eher für Linke nützlich ist.Niemand erklärt schonungsloser als Sinn, dass die europäischen „Rettungsschirme“ nicht etwa den südeuropäischen Menschen, sondern nur den nordeuropäischen Gläubigern helfen. Denen spricht er jedes Recht ab, sich ihren Verlust von Staaten und letztlich Steuerzahlern zurückerstatten zu lassen, weil es das ureigene Metier von Gläubigern sei, mit Geldanlagen Risiken einzugehen.Kredite wurden aufgedrängtEs spricht für Sinn, dass er nicht um der Neoklassik willen die Wirklichkeit glättet und fälscht, sondern sich lieber in Widersprüche verwickelt. Einerseits sind die Südländer wie Bettler, die lieber die Vorteile des Euro „verfrühstückt“ haben, statt sich von ihm zur Arbeitsdisziplin anhalten zu lassen. Über ihre Verhältnisse haben sie gelebt, das liest man überall und auch hier. Andererseits leben sie aber gar nicht in „ihren“ Verhältnissen, sondern in denen der Gläubiger. Wie ihnen Kredite aufgedrängt wurden, ohne dass man nach dem Bedarf fragte, sickert an vielen Stellen durch: „Die Banken drängten den Kunden die Kredite geradezu auf, sie begnügten sich mit geringen Sicherheiten.“Einerseits wird Geld von der Europäischen Zentralbank (EZB) „aus dem Nichts“ geschöpft, andererseits aber doch nur im Tausch gegen „Sicherheiten“ oder „Pfänder“, das heißt in Form von sogenannten Refinanzierungskrediten, die den Zentralbanken der Einzelstaaten gewährt werden.Dieser Widerspruch ist ganz elementar, weil er den Geldbegriff als solchen betrifft. Man sieht nicht, wo das Geld herkommt, außer dass schon die ursprünglich scheinende Geldemission nur eine Reaktion auf Gleichwertiges ist, letztlich auf anderes Geld. Dafür sieht man, dass das Geld eines Eigentümers immer woanders ist, nie bei ihm selber. Die Geschäftsbanken konnten ihr Geld nicht anlegen, also mussten sie es der Zentralbank ausleihen, schreibt Sinn. So kommt es, dass die Bundesbank ein Großschuldner der Geschäftsbanken ist. Da sie das Geld ihrerseits der EZB übergibt, ist diese der Schuldner in letzter Instanz.Relationales Geld! Obwohl man alltäglich damit umgeht, versteht man es schwer. Ich habe mein Geld nicht anders, als dass es bei der Postbank ist. Dass die Postbank dadurch mein Schuldner wird, erkenne ich daran, dass sich das Verhältnis umkehren kann. Wenn ich nämlich das Konto überziehe, muss ich der Postbank Zinsen zahlen. Da wird sie vom Schuldner zum Gläubiger. Das Modell des Girokontos reicht fast schon aus, die Targetproblematik zu verstehen.UngleichgewichtTarget ist wie gesagt ein Verrechnungssystem. Alle grenzüberschreitenden Geldströme werden zentral erfasst und täglich zusammengezählt, derart dass die summierten Überschüsse oder Defizite jedes beteiligten Landes im Verhältnis zu allen anderen Ländern sichtbar werden. Solche Überschüsse oder Defizite sollen aber gar nicht auftreten, außer vielleicht mal für ein paar Tage. Das System soll nur kurzfristige Engpässe auffangen helfen: ungefähr so, als wenn ich mein Girokonto überziehe, es aber doch so schnell wie möglich wieder ausgleiche.Tatsächlich ist in den letzten Jahren ein gigantisches Ungleichgewicht entstanden. Die Bundesbank verfügt über einen Überschuss von über 700 Milliarden Euro, und es ist überhaupt nicht abzusehen, wie er jemals wieder abgebaut werden könnte. Ein Problem ist das schon einmal deshalb, weil die Bundesbank dieses Guthaben nach der eben beschriebenen Logik bei der EZB unterhält. Das bedeutet, es ist weg, wenn der Euro und mit ihm die EZB zusammenbrechen sollte.Ist dieses Guthaben bei der EZB ein Kredit? Darüber hat Sinn mit Fachkollegen erbittert gestritten. Er hat die Frage zunächst uneingeschränkt bejaht. Tatsächlich müssen die Südländer, deren Target-Saldo negativ ist, für ihr Defizit in der Verrechnung einen wenn auch niedrigen Zins zahlen. Außerdem weist die Bundesbank ihre positiven Target-Salden in ihrer Zahlungsbilanzstatistik als „Kapitalanlage der Bundesbank im Ausland“ aus.Warum Überschüsse?Wo Zins gezahlt wird, muss ein Kredit sein, sollte man meinen. Aber man kann auch Sinns Gegner begreifen. Ein Kredit wird auf Zeit gegeben, und er wird als Kredit ausdrücklich vereinbart. In beiden Punkten unterscheidet er sich von meinem Girokonto. Das Verrechnungssystem der Euroländer ähnelt mehr meinem Girokonto als einem ausdrücklichen Kredit. Vor allem darin, dass man es überziehen kann und dann erst Zinsen ins Spiel kommen.Kein Zweifel kann aber daran bestehen, dass das positive Target-Saldo eine „Forderung“ begründet, ganz wie ich eine an die Postbank habe, mir jederzeit Geld aus meinem Girokonto auszuzahlen. Mehr sollte man nicht brauchen, um in Target-Salden, die klein und vorübergehend sein müssten, tatsächlich aber riesig und dauerhaft sind, ein schweres Problem zu erkennen. Sinns Frage, wie diese Überschüsse zu erklären sind, ist nur zu berechtigt. Seine Antwort: In ihnen spiegeln sich die letztjährigen Geldschöpfungsaktionen der EZB zugunsten der europäischen Südländer wider.Diese wurden von den Geschäftsbanken des Nordens nicht mehr kreditiert, nachdem ihnen vormals die Kredite geradezu aufgedrängt worden waren. Ersatzweise sprang die EZB ein. Eigentlich geht das logisch nicht, denn, wie gesagt, sie kann Geld nur in Form der „Refinanzierung“ geben, also im Tausch gegen Gleichwertiges. Aber eben weil, infolge des Ausfalls von Krediten der Geschäftsbanken, Gleichwert nicht mehr zustande kommt, wurde sie um ersatzweise Geldschöpfung ja angegangen. Den Widerspruch hat sie so gelöst, dass sie ihren neugeschöpften Geldwert nun eben gegen Ungleichwertiges, Schlechtbesichertes tauschte, was Sinn im Einklang mit der Sprache seiner Zunft als „Geldschöpfung aus der Notenpresse“ bezeichnet. Er sagt also schließlich, das positive Target-Saldo der Bundesbank sei zwar nicht selbst ein Kredit, zeige aber den Ausfall von Krediten in den Südländern und den Ersatzkredit der EZB in Form einer Geldschöpfung „aus der Notenpresse“ an.Offener EuroraumDas positive Target-Saldo begründet eine „Forderung“ ähnlich wie die der Postbank gegen mich, wenn ich mein Girokonto überziehe. Weil die Überziehung im Prinzip niemals getilgt werden muss, solange der Zins gezahlt wird, kann sie für ewige Zeit aufrechterhalten werden, ohne dass das System zusammenbricht. Können wir deshalb erleichtert sein? Keineswegs. Letztendlich fragen wir uns, ob es denn unmöglich geworden ist, mit dem Geld, das die Banken eines Teils von Europa erwerben, noch etwas anzufangen. In diesem Fall wäre es, wie Sinn deutlich ausspricht, gar kein Geld mehr.Er präsentiert aber nicht nur das Problem, sondern auch eine Lösung. Griechenland immer mehr Kredit zu geben, ohne dass es hilft, führt nicht weiter. Es aus dem Euroraum zu entfernen, ist aus vielen Gründen auch nicht gut. Die Lösung könnte im „offenen“ Euroraum liegen: Man versetzt das Land in den Status eines Beitrittskandidaten zurück, das bereits gewisse eurobezügliche Rechte und auch Pflichten, aber erst einmal wieder seine eigene Währung hat und diese abwerten kann. Das europäische Hilfsgeld, das Griechenland jetzt an seine Gläubiger weiterreichen muss, kommt dann stattdessen einem inländischen Aufbauprogramm zugute.„Steinbrück, übernehmen Sie“, möchte man sagen. Denn damit ließe sich vielleicht auch eine Bundestagswahl gewinnen. Man stelle sich nur vor, wie viel besser es Ostdeutschland in den Jahren nach der Wiedervereinigung gegangen wäre, wenn ihm dieser flexible Kandidatenstatus gewährt worden wäre, statt dass es sich über Nacht in fünf D-Mark-Länder verwandeln musste, die große Teile ihrer Industrie verloren. Doch Steinbrück ist nicht Lafontaine. Der hatte eine solche Lösung 1990 als Kanzlerkandidat der SPD verlangt.
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.