Streben nach Klarheit

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Strawinsky

Das Konzert am Samstag Abend galt dem frühen Boulez, Kompositionen der Jahre 1946 und 48 wurden gegeben. Ist der eigentliche Beginn serieller Musik mit Beginn der 50er Jahre anzusetzen, haben wir es hier noch mit einer Phase sozusagen freier Serialität zu tun, analog dazu, dass es bei Schönberg eine Zeit freier Atonalität gegeben hatte, bevor er für diese strenge Regeln einführte, eine Zwölftontechnik, mit dem Ergebnis von Zwöftonmusik. Das lag, als Boulez begann, schon einige Zeit zurück, er knüpfte an neueren Entwicklungen an. Zum einen an den Miniaturen Anton Weberns, des Schönberg-Schülers, der die musikalische Rede - die Melodie - in für sich seiende Töne zerstäubt hatte. Zum andern an der Hervorhebung der rhythmischen Dimension durch seinen Lehrer Messiaen.

Messiaen hatte sich als "Rhythmiker" bezeichnet und damit gegen die Vorherrschaft der Melodie und überhaupt der Tonhöhen in westlicher Musik Einspruch erhoben. Man darf es wohl auf seine Religiosität zurückführen. Der gläubige Katholik führte gern Elemente asiatischer Musik in seine Werke ein, Instrumente, Klänge, Tonsysteme, Rhythmen, denn sein Glaube war universell. Er ließ sich von fremder Musik missionieren, wie er umgekehrt seine christliche Sache in ihr ausdrückte. Übrigens ist Messiaens christliche Musik von ganz eigener Art: nicht wie bei Bruckner, wo ich manchmal den Eindruck habe, Gott sei der General der Panzerarmeen, sondern eher wie bei Rilke, wo er "der Leiseste" ist und als "junger Vogel" aus dem Nest fällt. Ein Christentum des Gekreuzigten also, ohne Herrscherallüren und deshalb zur Rezeption fremder Kulturen bereit. In denen werden Rhythmen höher bewertet als bei uns. Unsere Musiktradition ist tatsächlich eine der musikalischen Rede gewesen, wie ja auch in der christlichen Religion das Ritual, oder allgemeiner gesagt das Gestische, weniger wichtig war als die Botschaft. Doch das eine schließt das andere nicht aus. Messiaen hat eine derart feinnervige Rhythmik entwickelt, dass es unmöglich geworden ist, die Einzelheiten mit bloßem Ohr herauszuhören.

Boulez war gerade von den rhythmischen Errungenschaften seines Lehrers beeindruckt, lernte freilich nur, was er lernen wollte. "Wie sie wissen, verwendet er häufig griechische und indische Rhythmen", erzählt er seinem Gesprächspartner Célestine Deliége, "und das bringt meiner Meinung nach Probleme mit sich, weil es sehr schwer ist, Zivilisations-Stückgut in ein Werk einzubeziehen. Wir müssen unser eigenes rhythmisches Vokabular erfinden, das auf unseren Normen beruht." Sehr bezeichnend die Abwertung des "Stückguts", musikalische Kohärenz geht über alles. An den "indischen Rhythmen" stört umgekehrt die Festgelegtheit. Die serielle Musik ist noch nicht entwickelt, doch der junge Boulez will von Anfang an beides, von überlieferten Formen frei sein und sich selbst die strengste Form geben. "Mein erstes gedrucktes Werk, die Sonatine für Flöte und Klavier, enthält Passagen mit rhythmischen Strukturen, die in hohem Maße ausgearbeitet und vorangetrieben sind", erzählt er weiter. "Sie beruhen zwar noch auf einfachen Schemata und auf klassischer Schreibweise, aber ich habe sie bis zum äußersten Punkt ihrer Möglichkeit ausgeformt. Später sind mir dazu noch andere Gedanken gekommen, aber schon damals war ich überzeugt, dass die rhythmische Schreibweise eine eigene Ausarbeitung verlangt."

Es geht um Freiheit und Formstrenge, aber ein drittes Element ist ebenso wichtig, die heftigste, gewalttätigste Leidenschaft. Dass Formstrenge und Leidenschaft überhaupt zusammentreffen können, mag irritieren, Boulez indes verstünde man nicht anders. Er fährt fort: "Durch Messaien habe ich sehen gelernt, wie notwendig die Arbeit auf rein rhythmischer Ebene ist, und zwar vor allem in den Unterrichtsstunden, in denen er sich mit Strawinsky befasste." (Pierre Boulez, Wille und Zufall. Gespräche mit Célestine Deliége und Hans Mayer, Stuttgart Zürich 1977, S. 12 f.)

Seine Rhythmen sind zunächst nicht feinnervig, sondern gewaltsam wie Le Sacre du Printemps von Strawinsky. Dessen Gewalt wird mit der Subtilität und Komplexität Messiaens gekreuzt, und wenn dann noch Weberns zerstäubte Töne hinzukommen, ergibt sich ein Werk wie die Erste Klaviersonate von 1946, die am Samstag zu hören war (gespielt von Pierre-Laurent Aimard). Der Reiz dieser Sonate liegt darin, dass sie noch relativ leicht nachzuvollziehen ist. Im ersten Teil gibt sie sich didaktisch einfach. "Die ersten Takte der Sonate beleuchten den Kern des Klaviersatzes", lesen wir in Reclams Klaviermusikführer: "punktartig gesetzte Klänge, die selten zum Akkord zusammenfließen; jeder Ton ist eine nicht wiederholbare Individualität, alle Register sind gleichberechtigt bei äußerster Durchsichtigkeit." (Bd. II, Stuttgart 1967, 1994, S. 981 f.)

Dem Urteil des Autors Klaus Billing kann ich nicht folgen: "Waren bei Messiaen die beiden Kräfte Harmonie und Rhythmus wirksam bis zur Brisanz, so lösen sie sich im seriellen Stil der Sonaten von Boulez durch Überkomplizierung zu reinen Denkmodellen auf, denen das Ohr nicht folgen kann und auch gar nicht soll." (S. 983) Natürlich kann das Ohr die Komplexität nicht erfassen, jedenfalls nicht analysieren - das ist bei Boulez aber gar nicht anders als bei Messiaen -, doch an Brisanz, finde ich, an Härte und Erregtheit übertrifft Boulez seinen Lehrer noch. Das Wilde wird reguliert, deshalb aber nicht zum "Denkmodell"; die Regeln drosseln nicht, sondern steigern.

O meine Verzweigung

Le Visage nuptial, "Das bräutliche Gesicht" für Sopran, Mezzosopran, Frauenchor und Orchester nach Texten von René Char, ebenfalls von 1946, 1989 jedoch (letztmalig) überarbeitet, lässt sich in seiner Opulenz viel weniger leicht begreifen. Das Gefühl wird ohne weiteres angesprochen, man weiß nur nicht genau, worum es geht. Dabei ist das Thema des fünfteiligen Gedichtzyklus sehr einfach: Liebessehnen, geschlechtliche Vereinigung, Zeit des Zusammenseins und zuletzt Trennung, Abschied. Die Sprache des surrealistischen Dichters macht die Sache schon schwieriger, doch begreift man noch, wie ein Komponist in dieser Beschreibung von Sehnsucht Kompositionsprobleme gespiegelt finden kann: "Sieh, es regt sich die Flechtung / Aller Gewissheit, die hier / Neben uns ihre Quintessenz fand, / O meine Verzweigung, mein ängstlicher Durst!"

Weshalb aber diese alles durchdringende Flut von Frauenstimmen? Den Chor hatte Boulez erst bei der Überarbeitung hingefügt, gerade im Versuch, den Klang zu finden, der ihm vorschwebte. Chor und Soprane singen in langen Tönen und hohen Lagen, ich fühle mich an die musikalischen Halluzinationen meiner frühen Kindheit erinnert. Wenn ich an den öden Sonntagen erwachte, gellten mir kalte Engelschöre in den Ohren, ein klirrendes Durcheinander langgestreckter Töne, wahrscheinlich der Niederschlag des Gemeindechors der Gottesdienste, die ich nach dem Aufstehen an der Hand meiner Eltern besuchte. Es strebte nach nichts, war nur ein beklemmender Zustand. Bei Boulez ist es ein Streben, doch wohin? Auf jeden Fall wird ein Gefängnis brutal gesprengt, schon nach dem Text von Char. Der zweite Teil ist "Schwerkraft. Der Eingemauerte" überschrieben. Im dritten, der die Erfüllung bringt, lesen wir unzarte Sätze wie "schlag zu mit deiner Keule aus Todesängsten, bitterer Schlaf". Die Musik ist entsprechend eruptiv, immer jedoch mit diesem Frauenstimmen überwölbt. Zerspringendes Eis - es ist, als hätte sich der zweite Ton des Tristan-Motivs von diesem losgelöst und hinge in der Luft.

Lassen wir das Rätsel auf sich beruhen; ein anderer Zug ist leichter begreiflich. Der vierte Teil hebt sich in der Rhythmik von den anderen ab. Hier fließt nicht nur alles ineinander, sondern die beherrschende Figur ist ein vom Chor leise vorgetragenes monotones Stampfen. Die erste noch unangemessene Erinnerung geht an Orffs Carmina Burana, die zweite an den Anfang von Le Sacre du Printemps. Das ist wohl eine Art Strawinsky-Zitat, warum aber gerade hier? Weil dieser vierte Teil der einzige ist, in dem Geschichte erzählt wird, in der Vergangenheitsform: "Der Sommer und unser Leben wir waren aus einem Guss / Das Feld aß die Farbe deines duftenden Rockes / Gier und Zwang vertrugen sich wieder", während die andern Teile aus der Gegenwart heraus sprechen: "Du bist nackt, dornenbesternt, / Verschlossen, warm und verfügbar". Der Erzählform entspricht musikalisch eine Figur der Zeitschläge; hinter dem Strawinsky-Zitat wird das Ticken der ablaufenden Lebensuhr in manchen Bach-Kantaten erahnbar. Boulez hat den Uhrschlag später in Le marteau sans maitre noch deutlicher nachgeahmt, worauf ich anlässlich der Aufführung am 19. September noch zu sprechen komme.

Dies Beispiel erinnert einmal mehr daran, dass Rhythmen tatsächlich schon in älterer Musik Träger von Semantik sein konnten. Ein anderes Beispiel ist das veritable Ende, das Boulez mitten im dritten Satz inszeniert, der dennoch weitergeht. Höchste Lautstärke, finaler Schlag, kurze Pause und die Töne kommen, leise zunächst, wieder auf - ein Ende, das nicht am Ende steht, weil es selbst das Thema ist. In ganz anderer Musiksprache findet man die Figur auch in Schuberts Neunter Symphonie, in der Achten von Bruckner, der Zehnten von Mahler, wieder der Achten vom Schostakowitsch. In all diesen Fällen geht es um katastrophische Zusammenbrüche, während es sich bei Boulez ja wohl um die Erfüllung von Liebessehnsucht handeln soll. Aber wer weiß. Jedenfalls hat man bei Schubert und den anderen gehört, dass die Katastrophe nicht das Letzte war, und so hört man bei Boulez, dass mit dem Akt der Erfüllung das Streben nicht aufhört. Es ist eigentlich dasselbe geblieben, von Klärung keine Rede. Boulez aber will klar sein.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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