In der Lutherdekade, die auf die 500-Jahrfeier der Reformation 2017 zuläuft, ist kein Jahr wichtiger als 2014 mit dem Thema „Reformation und Politik“. Eine brisante Frage steckt darin: ob Deutschland noch im Schatten von Luthers Obrigkeitsdenken steht. Sie macht deutlich, dass es nicht reicht, von Luther zu sprechen, wenn an die Reformation erinnert werden soll. Calvin, der andere Reformator, war kein Deutscher und verstand Politik anders.
Martin Luther ist einer der wichtigsten Deutschen in dem Sinn, dass nur wenige dies Land so geprägt haben wie er. In einschlägigen Umfragen wird er stets an erster Stelle genannt. Er hat nicht nur eine Kirche gegründet, auch kulturell und politisch ist seine Ausstrahlung auf die Jahrhunderte gewaltig. Noch Bertolt Brecht orientiert sich an der Sprache seiner Bibelübersetzung. Die Nazis konnten sich auf seinen Antisemitismus berufen. Sein folgenreichster politischer Impuls aber war die Interpretation des Bibelsatzes, der in seiner Übertragung „JEderman sey vnterthan der Oberkeit“ lautet. Martin Luthers Haltung im Bauernkrieg, wo er sich auf die Seite der Herren stellt und ihnen ein gutes Gewissen beim Totstechen der Aufständischen verschafft, ist ebenso bekannt wie das da beginnende „Bündnis von Thron und Altar“. Ob davon gar nichts mehr nachwirkt, das ist die Frage.
Am Bibelsatz liegt es nicht, er ist gar nicht der Rede wert. Heute übersetzt man, den „Trägern der staatlichen Gewalt“ sei „der schuldige Gehorsam“ zu leisten. Die Gewalt geht inzwischen vom Volk aus. Doch in Luthers Umfeld herrschten Fürsten und grundbesitzender Adel. Der ihm bald nachfolgende Genfer Bürger Calvin hatte eine andere Obrigkeit vor Augen, den städtischen Rat, und begriff daher, dass sie nicht die Beherrschung der Bürger war, sondern ihre Zusammenfassung. Von da ging später die Demokratie-Entwicklung der großen Handelsstaaten aus, erst der Niederlande, dann Englands und zuletzt der USA. Auch Jean-Jacques Rousseau, der Inspirator der Französischen Revolution, war Genfer Bürger. In Deutschland jedoch blieb Luthers Verständnis prägend. Wenn es einen deutschen Sonderweg gegeben hat, bestand er darin. Wir beschreiten jetzt andere Wege, aber haben wir den alten Weg ganz verlassen?
Was ist etwa von der deutschen Westbindung zu halten? Überdeutlich mahnt Bindung an ein deutsches Grundwort, die Pflicht. Gemeint war die blinde Bereitschaft des Untertanen, sich am staatlichen Befehl zu orientieren. Noch der „Befehlsnotstand“, auf den sich Adolf Eichmann berief, geht darauf zurück. Immanuel Kants Pflichtlehre ist anders gemeint (Hannah Arendt erinnert daran), wurde aber nie zur Kenntnis genommen. Das zeigt auch die „Westbindung“. Sie wird nicht so gelebt, dass deutsche Politiker sich westlich verhalten, sondern dass sie dem Westen gehorchen, und zwar der Führungsmacht. Der Westen außerhalb Deutschlands, man nehme Frankreich oder Israel, tut das keineswegs. Deutschland agiert so, als gehöre es nicht auch zum Westen, sondern müsse da erst ankommen. Bezeichnend war die Entwicklung der 68er Generation. Da sie unter der deutschen Geschichte litt, begann sie "antiautoritär". Sie demonstrierte gegen den Vietnamkrieg. 1998 in der Regierung angelangt, folgte sie dann den USA in den Kosovokrieg.
Ob die heutige deutsche Politik den USA in einen neuen Kalten Krieg gegen Russland folgt, wird man sehen. Sie ist jedenfalls weit entfernt, die deutsche Mittellage als Brücke zwischen West und Ost zu begreifen und danach zu handeln. Warum sieht sie nicht, dass sie auch dann dem Westen zugehörig bliebe? Denn Deutschland ist protestantisch und katholisch und mithin westlich. Es hat nur eben diese lutherische Vergangenheit und könnte deshalb zwischen dem Westen und Russland vermitteln. Dazu müsste es der russisch-orthodox geprägten Obrigkeit nicht nur westliche Kritik zumuten, sondern auch etwas mehr Geduld entgegenbringen. So eine Haltung fällt deutschen Politikern aber schwer, weil sie ihr eigenes Obrigkeitsdenken noch nicht überwunden haben. „Russlandversteher“, auch „Bedenkenträger“ sind hierzulande Schimpfwörter. Verstehen und Bedenken herabzusetzen, ist so irrational, dass der autoritäre Charakter ins Auge springt. Wer gehorcht, soll eben blind gehorchen und „das Denken den Pferden überlassen“, wie man früher sagte.
Spuren von Autoritätshörigkeit finden wir auch in der deutschen Innenpolitik. Lässt sie sich nicht als Folge von Akten nacheilenden Gehorsams beschreiben, den die SPD der CDU entgegenbringt? Diese bestimmt die Richtlinien, die SPD führt sie aus. Das ist hierzulande der Sinn von Regierungswechseln. Konrad Adenauer brachte ihr die Westbindung bei, Helmut Kohl die Bereitschaft zur Kriegsteilnahme, Angela Merkel das Euro-Krisenmanagement. Die SPD könnte jetzt mit Grünen und Linken regieren, aber sie will nicht, ist lieber „der Obrigkeit untertan“. Und wie war das mit der Debatte um das Asylrecht 1993? Die Union verlangte die faktische Abschaffung, SPD und FDP wehrten sich, gaben aber klein bei, obwohl sie zusammen mit Bündnis 90 und PDS die absolute Mehrheit gehabt hätten.
Das wären große Themen, nicht nur für das Jahr 2014. Wenn sie im Zentrum stünden, könnte Deutschland sich über sich selbst aufklären.
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