Über Pfingsten kommt Pierre Bourdieu nach Berlin, um das Projekt "Charta 2000" vorzustellen. Berlin ist nach Zürich die zweite Station seiner europäischen Reise, das nächste Ziel soll Athen sein. Der Pariser Soziologe, Nachfolger Michel Foucaults am College du France, versucht fast im Alleingang, eine internationale Widerstandsbewegung gegen den Neoliberalismus ins Leben zu rufen. Die "Charta" ist schon jetzt das Produkt von Verhandlungen zwischen verschiedenen Gruppen, doch wird ihre derzeitige Formulierung nur als Anstoß eingebracht, damit das eigentliche Dokument dieses Namens bis Ende 2000 von möglichst vielen europäischen Bewegungen ausgearbeitet und unterzeichnet werden kann. Zu diesem Zweck sollen "Generalstände" einberufen werden, wie Bourdieu in Anspielung auf die Anfänge der Französischen Revolution formuliert. Ist das nicht etwas hoch gegriffen? Dem Papier, um deren Diskussion es jetzt geht, wurde bereits vorgeworfen, es sei viel zu allgemein gehalten. Und ohnehin wächst die Zahl der Linken, die es schon gar nicht mehr hören können, dass immer wieder der Neoliberalismus, "in dieser Allgemeinheit", überhaupt angegriffen wird.
Sollte man nicht lieber die aufregenden Prozesse der Umstrukturierung, die mit diesem Etikett zusammengefasst werden, im Detail studieren und zusehen, wie und was man da mitgestalten kann? Ist der neoliberale Zug nicht längst abgefahren? Macht er nicht sogar Spaß, jedenfalls "der Jugend"? Ist er wirklich so schlecht und so dumm, wie ihn die Traditionalisten mit ihren altbackenen Pauschalurteilen hinstellen? Bourdieu sagt Ja. Die "Charta" ist gar nicht so allgemein, wie sie bei flüchtiger Lektüre aussehen mag. Sie bezeichnet die neoliberale Politik als "restaurativ" und wirft ihr vor, sie gebe Menschen "einem ungewissen Schicksal preis". Das hat eine ziemlich präzise Bedeutung. In anderem Kontext hat der Soziologe erklärt: Der Staat der Neuzeit sei eine Errungenschaft, die man mit den Umwälzungen der neolithischen Revolution, etwa der Zähmung von Tieren, vergleichen könne; in einem langen schwierigen Prozess sei zur Polizeigewalt die Wohlfahrt hinzugekommen. Das zu zerstören nur um der "Wiederherstellung der Vergangenheit" willen - wie es in der "Charta" heißt -, sei nichts als primitiv.
Für Bourdieu besteht die Aufgabe des Staates darin, die Schwachen vor den Starken zu schützen. Zugegeben, das ist altmodisch, denn schon die ägyptischen Pharaonen haben ihre Gewalt gerade so gerechtfertigt. Doch es erweist sich als befreiend, daran zu erinnern. Man wird auf den Schmutz aufmerksam, der sich im eigenen Kopf schon angesammelt hat: als ob es besser wäre, die Starken so machen zu lassen, wie sie wollen - "Deregulierung" -, weil das überall zum größten Glück führe durch die unsichtbare, alle zärtlich streichelnde Hand des Marktes; die Schwachen also nicht vor ihnen zu schützen. Vor ihnen nicht! Höchstens vor sich selber, sofern sie fremd oder kriminell, arbeitsscheu oder anspruchsvoll sind, sich dem Niedriglohnsektor entziehen wollen ... Will man nicht annehmen, dass die ganze Menschheitsgeschichte bis in die siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts hinein ein Irrweg war, dann muss man solche Argumentationsmuster für geradezu verbrecherisch ansehen. Es wird suggeriert, der Wohlfahrtsstaat habe nur Sand ins Getriebe der ökonomischen Effizienz gestreut. Aber wer erinnert sich nicht daran, dass bis vor wenigen Jahrzehnten nicht nur die Wohlfahrt, sondern auch die ökonomische Effizienz ausgebaut werden konnte? Das war keineswegs ein Widerspruch.
Es gab gewiss Staaten, die die Effizienz erstickten, angeblich im höheren Interesse der sozialen Gerechtigkeit. Dennoch haben Staaten die Wohlfahrt aus- und nicht abzubauen. Keine noch so effiziente Ökonomie nimmt ihnen das ab. Selbst der Kommunismus, von dem Marx träumte, wäre nicht schon als pure Produktionsweise gerecht gewesen, sondern auch dort hätte es Starke und Schwache gegeben und wäre es also notwendig geworden, die Letzteren vor den Ersteren zu schützen. Die Vorstellung, dass eine Effizienz als solche diesen Schutz übernimmt, und nun gar im Neoliberalismus, ist nicht einmal dumm, denn so dumm ist niemand zu glauben, dass wir im Paradies leben, wo das Lamm neben dem Wolf friedlich grasen kann. Die Effizienz einer Ökonomie wäre auch daran zu messen, dass sie einen gerechten Staat neben sich zuläßt. Diese Eigenschaft geht dem Neoliberalismus entschieden ab. Die "Charta" unterstreicht das: Selbst wenn Sozialdemokraten an der Regierung sind, führt das nur zur Verdrängung und Verharmlosung der Probleme. Diese Menschen "verschanzen" sich "hinter einem letzten Rest staatlicher Handlungsfreiheit" und haben "sich dabei immer bedenkenloser mit den wachsenden gesellschaftlichen Ungleichheiten abgefunden".
Das Neue und gar nicht Selbstverständliche der Bourdieuschen Initiative ist die Distanzierung von der Sozialdemokratie. Bourdieu nimmt die Auflösung der sozialdemokratischen Ideologie in Angriff. Wenn man zunächst meint, er rekurriere auf alte sozialdemokratische Werte, um sie endlich zu realisieren, so täuscht man sich. Schutz der Schwachen, Kompensation durch den Wohlfahrtsstaat und die Schaffung einer Gegenmacht - "eine internationale Struktur", heißt es in der "Charta", "die alle möglichen organisatorischen und intellektuellen Formen des Widerstandes gegen die neoliberale Politik bündelt, gleichzeitig aber ihre Unabhängigkeit gegenüber den Parteien und Regierungen, insbesondere gegenüber den Regierungsparteien bewahrt" -, sind das nicht alte Bekannte aus dem sozialdemokratischen Waffenarsenal? Dreimal nein, denn Bourdieu hat klargestellt: mit der "Struktur des Widerstandes" wird versucht, die Suche nach der "Wahrheit" zu organisieren, und Kompensation will nicht bloß den Geldmangel der Schwachen, sondern ihre Schwäche selber, also ihre Unfreiheit korrigieren. Man kann sich Schwache vorstellen, die sich für Kompensation und Gegenmacht zusammenschließen und dabei bereit sind, die Freiheit und die Wahrheitssuche den Starken zu überlassen: das ist Bourdieus Sache nicht.
Sabine Kebir hat in einem Beitrag für Jungle World gezeigt, dass er selbst eher an Starke appelliert, nämlich an die Intellektuellen, die es früher als ihre Aufgabe ansahen, die Stimme der Schwachen zu verstärken. Inzwischen habe die Bourgeoisie ihre eigenen Intellektuellen, die "neuen Mandarine", hervorgebracht. Deren Streitmethode sei nicht die Widerlegung, sondern die Diffamierung. Diffamierung sei "minder kostspielig", "insbesondere wenn sie als gezielte Kampagne organisiert wird". Die Bourdieu vorschwebende Gegenmacht, die als Organisation der Suche nach "Wahrheit" konzipiert ist, soll nicht zuletzt für die Intellektuellen im traditionellen Sinn eine neue Ermutigung sein. Er schlägt ihnen konkret vor, die Übermacht der Mandarine durch "symbolische" Politik zu brechen. Denn auch Symbole - nicht der Diffamierung, sondern der Wahrheitssuche - sind minder kostspielig und können die Massen erreichen. Die "Charta" spricht von "neuen, insbesondere symbolischen Formen des Handelns, um immer wieder, wie es auch in Seattle geschehen ist, die grundlegendsten Wünsche der Bürger zum Ausdruck zu bringen".
Kebir weist darauf hin, dass Bourdieu mit solchen Überlegungen auf Antonio Gramsci, den Mitgründer der italienischen kommunistischen Partei, zurückgreift. Das bedeutet aber, sein Anstoß wäre als Vorstufe einer neuen Parteigründung zu begreifen. Denn bei Gramsci ist es die höchste Funktion der Intellektuellen - einiger Intellektueller -, in der Wahrheitssuche erfolgreich zu sein, sich deshalb auf einen kühnen Konsens einigen zu können und dann den unzerstörbaren Nukleus einer Partei zu bilden. Das ist ein langwieriger Prozess, aber er muss einmal anfangen. Der erste Schritt ist jene "Struktur", von der die "Charta" sagt, dass sie "einen gemeinsamen schöpferischen Prozess in Gang bringen könnte". In Deutschland haben sich ihr bereits die Gewerkschaften IG Metall und IG Medien angeschlossen. Die symbolische Dimension des Kampfes, der geführt werden muss, ist aber noch nicht sichtbar. Wie wäre es denn, wenn Einzelpersönlichkeiten wie Claudia Roth, Gregor Gysi und Oskar Lafontaine aus ihren jeweiligen Parteien austräten - ohne die freundschaftliche Beziehung zu ihnen zu beenden -, um nur noch für dieses Projekt gemeinsam zu sprechen?
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