"Tonale" Musik

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Die MaerzMusik, ein Berliner "Festival für aktuelle Musik", ist in diesem Jahr für musikalisch und politisch interessierte Menschen gleich wichtig, denn sie steht unter dem Titel UTOPIE [VERLOREN]. Kann uns Kunst hier etwas zeigen, worauf wir sonst nicht kämen oder dessen Wichtigkeit wir falsch einschätzen? Auf jeden Fall bringt die Musik ihre eigene Perspektive ein, die sich von der Perspektive des Politikers, Publizisten, Essayisten radikal unterscheidet und schon deshalb einen auch für sie bereichernden Beitrag verspricht. Im übrigen ist die umgekehrte Frage nicht weniger interessant: Was wird aus der Musik in einer Zeit, die mit dem zweideutig unentschiedenen Titel UTOPIE [VERLOREN] nicht schlecht beschrieben sein dürfte? Weil solche Fragen auch mich umtreiben, will ich mir nun jeden Tag Konzerte und Musiktheaterstücke des Festivals anhören und in diesem Blog darüber schreiben.

Das Festival dauert vom 19. bis zum 28. März. Am 19. war die für Pressevertreter unzugängliche Generalprobe eines Musiktheaterstücks, und auch am 20., als es seine offizielle Aufführung hatte, war ich verhindert, so dass ich erst der Wiederholung am gestrigen Sonntag beiwohnen konnte. Verhindert werde ich auch am kommenden Freitag sein, was sehr schade ist, denn da findet einer der beiden Konzertabende mit großem Symphonieorchester statt, die sehr nahe ums Festival-Thema kreisen. Vielleicht hat jemand anders Lust, dies Konzert zu besuchen und seine Eindrücke mitzuteilen? Wenn ich dazu mit meinen Beiträgen motivieren könnte, wie überhaupt zum Besuch der MaerzMusik, würde mich das freuen.

"Tonale" Musik

Im fast 400 Seiten dicken Programmbuch kann man sich über das Konzept informieren, das die Veranstalter mit UTOPIE [VERLOREN] verbinden, und es enthält Texte von Helga de la Motte-Haber, Albrecht Wellmer, Diedrich Diedrichsen und Jan Assmann. Ich will hierauf erst in einem späteren Beitrag eingehen, heute aber mit der Musik anfangen, wie sie mir gestern zu Ohren kam. Am gestrigen Sonntag um 16 Uhr gastierte das (Streich-) Quartetto Prometeo in der Sophienkirche, es führte Werke von Giacinto Scelsi, Barbara Mink Feldman, György Kurtág und Salvatore Sciarriro auf. Gleich das erste Werk, Scelsis Streichquartett Nr. 4 aus dem Jahr 1964, erlaubt mir eine Einführung ins Thema. Denn wer es nicht gewohnt ist, moderne Musik zu hören, erlebt hier schon den Fall, wo er typischerweise sagt: "Ich passe." Man hört doch praktisch nichts, protestiert er. Da werden wenige Töne geboten, und es findet ein seltsam minimalistisches Spiel mit ihnen und um sie herum statt. "Wenn man das überhaupt Musik nennen soll", dann tritt sie jedenfalls auf der Stelle! Winzige Abweichungen von gegebenen Tönen sind schon das Äußerste, aber eine "Entwicklung", wie man sie gewohnt ist, findet nicht statt...

Hier kann man gut einhaken. Wo kommt denn unsere Gewohnheit her? Das, was wir tonale Musik nennen und vielleicht gerade noch bis Mahler, Prokofiev und Schostakowitsch tolerant begleiten, folgt einer Auffassung von musikalischer Zeit, die sich nicht von selbst versteht. Überhaupt von Zeit. Wie kommt eigentlich unsere Zeitempfindung zustande, von Musik zunächst einmal ganz abgesehen? In unser Bewusstsein werden doch nur Eindrücke eingraviert. Dabei "beeindrucken" uns die, deren Gravur wir eben erst erlebt haben, so viel stärker als die anderen, dass wir diese anderen einer "Erinnerung" zuschreiben, von der wir wähnen, sie stünde auf einem ganz anderen Blatt. Tatsächlich gelangen aber nur lauter Eindrücke in unser Bewusstsein, und wir sind es selbst, die sie auf eine Linie der Zeit bringen, eine Zeitfolge daraus machen. Natürlich machen wir nicht die Zeit, die gibt es ohne uns, wohl aber wirkt sich die Vorstellung aus, die wir uns von ihr machen. Darüber gibt es nun viele Philosophien. Gleich die erste von großer Bedeutung, diejenige, die der Kirchenvater Augustinus in seinen Confessiones ausgearbeitet hat, hat auch die musikalische Zeitauffassung entscheidend beeinflußt, jedenfalls die der tonalen Musik der Neuzeit.

"Kein Zweifel", schreibt Augustinus, "gäbe es einen Geist, begabt mit so gewaltigem Wissen und Vorherwissen, dass er alles Vergangene, alles Zukünftige so kennte, wie ich ein wohlbekanntes Lied, ein solcher Geist erregte unsere höchste Bewunderung." Dass hier bereits von der Utopie gesprochen wird, vom "Zukünftigen", also letztlich von Gott, wenn der Kirchenvater spricht, bedarf kaum der Erwähnung. Auch nicht, dass der Kirchenvater sie nicht als [VERLOREN] erachtete. Was natürlich daran liegt, dass er zu wissen glaubte, in welcher Utopie wir einst ankommen würden. "In meines Vaters Haus sind viele Wohnungen", hat er ja in der Bibel gelesen. Dies teilt sich aber seinem Zeitgefühl mit. Er versetzt sich in Gott, der das Ende von allem schon kennt und deshalb jemanden wie ihn, der gerade irgendwo sitzt und diesen Satz über die Zeit niederschreibt, so wahrnimmt wie wir eine Stelle eines Liedes, das wir kennen: so nämlich, dass wir schon wissen, was im nächsten und allen noch folgenden Augenblicken passieren wird; wir können daher genau angeben, was der Stellenwert der Stelle ist. Diese Metapher ist so einleuchtend, dass sie aufs Metaphorisierte übergreift. In der europäischen Neuzeit werden ganze Weltzeitabläufe in musikalische Sprache gegossen, Läufe, die uns viel elaborierter in Gottes Perspektive zu versetzen scheinen, als ein Lied das könnte. Wobei das Lied aber von Mozart bis Mahler zu den Quellen und elementaren Bestandteilen dieser Sprache gehört.

Wenn wir beispielsweise Beethovens Fünfte Symphonie hören, mögen wir gerade im ersten Satz stecken und vom Schrecken des Todesmotivs Tatatataaa heimgesucht sein, immer noch, immer wieder, obwohl wir's zum 50. Mal hören. Aber gleichzeitig wissen wir auch, die Sache wird gut enden, im vierten Satz mit der Revolutionsmusik, bei der die alten Soldaten Napoleons aufgesprungen sein sollen vor Freude, weil sie es wiedererkannten. Wir wissen das jetzt schon, obwohl es in der Zukunft liegt. Und es geht nicht nur um Napoleon, sondern Beethoven glaubte, mit der Französischen Revolution fange man bereits an, die Utopie zu verwirklichen. In seiner Neunten ist er nicht mehr so sicher, ob alles gut enden wird. Aber wie es enden würde, wenn es das täte, davon hat er immer noch einen festen Begriff.

Deshalb kann er, deshalb können alle tonal komponierenden Komponisten ihre Musik vom musikalischen Ende her aufrollen, ob sie nun an ein gutes Ende glauben oder an ein ein böses. Die Musik vom Ende her ist aber eine, die zum Ende hin fortschreitet. Dies Fortschreiten ist es, was unser vielleicht nicht nur musikalisches Zeitgefühl ausmacht. Eins nach dem andern - es ist "spannend" - "jetzt wissen wir mehr" (denn das musikalische Thema ist d u r c h g e f ü h r t worden) - aber stimmt das denn auch? Die meisten modernen Komponisten haben es nicht mehr geglaubt. Sie geben nicht mehr vor, das Ende zu kennen. Sie können daher keine fortschreitende, nämlich zum Ende hin fortschreitende Musik mehr schreiben. Und so kommt es, dass es uns scheint, ihre Musik trete auf der Stelle.

(A-) Tonale Musik

Ich habe Gänsefüße gebraucht: "tonale" Musik. Denn wir brauchen nur in den gestrigen Streichquartett-Nachmittag hineinzuspringen, um zu begreifen: Diese Musik, die sich tonal nannte, war es gar nicht. Der Ton spielte in ihr durchaus nicht die Hauptrolle. Sicher, alles, was Musik je faszinierend machte, waren die Töne. Von ihnen und vom Rhythmus, der auch aus Tönen besteht, ging immer schon die musikalische Emotion aus. Aber wie sehr waren sie kontrolliert durch die musikalischen Formen, mit der Liedform angefangen, zu schweigen von komplexen Formen wie dem Sonatenhauptsatz! Die Quellen des Sonatenhauptsatzes, also der Struktur Exposition - Durchführung - Reprise - (Coda), sind keine nur musikalischen. Dass man sich auf zwölf Töne beschränkt, in der Neuzeit nur Dur und Moll gelten lässt und so weiter, hat viel mit außermusikalischen Weltbildern zu tun. Diese wurden zu Kontrollsystemen, weil sie regelten, welche Töne im doppelten Wortsinn p a s s i e r e n durften. Dabei stimmten alle Weltbilder darin überein, dass man glaubte, die Kenntnis des Weltendes sei in sie eingegangen. Die Utopie war nicht verloren.

Aber gestern beim Streichquartett-Nachmittag, jedenfalls in den Werken von Scelsi und Feldman, spielte der Ton nicht nur die Hauptrolle, sondern es ging praktisch nur um ihn. Scelsi war ein ungewöhnlicher Mann, der über Töne nachdachte und mit ihnen experimentierte, ohne sie auch nur notieren zu können; damit Partituren daraus wurden, musste er die Hilfe befreundeter Komponisten in Anspruch nehmen. So leidenschaftlich ging es ihm um die Sache. Sein Hauptgedanke: In der Musik müsse zur Geltung gebracht werden, dass Töne nicht nur Lage, Dauer, Stelle im Zeitablauf und so weiter, sondern auch "Tiefe" haben. Was er damit meinte, war gestern zu hören. Es war, als komme jeder Ton von irgendwoher, wo er noch gar nicht Ton ist, aber einer werden will, so dass man die mal erregten, mal leichtfüßigen Gesten des jeweiligen Übergangsversuchs hört. Andere Töne sind bereits angekommen (auf der Oberfläche unseres Tonverständnisses). All das wird nun in einem Ablauf verknüpft, der zwar Symmetrien, Intensitätssteigerungen und dergleichen kennt, aber keinen Anlass hat, irgendwelche Schemata überzustülpen. Weil es um den Ton geht. Weil der Ton Thema genug ist. Man kann dies Interesse, das Scelsi mit vielen modernen Komponisten teilt, der berühmten "Emanzipation der Farbe" in der avantgardistischen Malerei zur Seite stellen.

Hat das nun etwas mit Utopie zu tun? Und ob. Zwar, wenn die Utopie nicht "spannend" sein sollte, wird sie es gewiss nicht durch Scelsis Musik werden, die auf der Stelle zu treten scheint. Aber das tut sie gar nicht wirklich, wenn man einmal ihr Thema begriffen hat. Sie hat einen Zeitablauf, nur eben keinen, der vom Ende her zurückblickt. Utopisch ist ihr Thema selber. Jedenfalls wenn man Adorno folgt. In dessen Schriften zur Ästhetik kann man lesen, dass zur Utopie die Befreiung der Natur und unsere Versöhnung mit ihr gehöre und dass der musikalische Ton auf den natürlichen Schrei verweise, der oft ein Schrei des Entsetzens ist. Muss man noch mehr sagen? Wenn alle Schreie gehört würden...

Das Streichquartett Nr. 1 von Barbara Monk Feldman (erste Fassung 2004, jetzt als neue Uraufführung) trägt den Titel Desert Scape. "Was sind die anderen 'Stimmen'", fragt sie erläuternd, "die man an diesen entlegenen Gebieten" - der Wüste - "hört, wo nur der Klang des Windes die Stille bricht?" Eine schöne Metapher für das, wovon eben die Rede war. Sie habe sich, schreibt Feldman, "von Martin Bubers Beobachtung inspirieren lassen, dass 'in der Seele die Natur zeitlos eingefangen ist'". Auch in Feldmans Musik gibt es, wenn man so will, nur Töne. Aber was ist das für ein Reichtum! Musikalische Veränderung, von traditioneller Musik in Ablaufschemata eingebunden, findet hier auf einer ganz anderen Ebene statt. Aber sie findet statt. Denn es gibt Mikromodulationen, die vom je einzelnen Ton ausgehen und ihm benachbart bleiben. Bei Feldmann wird nicht nur ungewohnte Zeit, sondern auch vertrauter Raum hörbar, indem es manchmal kleine Linien gibt und darunter solche, die das dunkle Cello den anderen, helleren Instrumenten aus der Distanz entgegensetzt, einer menschlichen Distanz, wie es die andere Wand des Wohnzimmers ist.

Auch das ist unverlorene Utopie. Bei Platon hieß Utopie Versöhnung oder "Harmonie" des Einen mit dem Vielen. Das wollte neuzeitliche Musik schon immer nachbilden. Aber in der Musik, die sich selbst die tonale nannte, war das Viele viel heterogener, viel mehr äußerlich zusammengezwungen als heute. Obwohl man natürlich zuerst das Umgekehrte betonen muss: dass wir unsern Höreindruck der harmonischen Vereinigung des Vielen gerade der traditionellen Musik verdanken. Die bereits hat Werke geschaffen, die der Utopie viel näher kamen als irgendeine Partei. Übrigens reden wir von der Utopie, die auch Marx hatte, er nannte es "die Assoziation freier Individuen".

Das anschließende Werk von Kurtág war zwar atonal, aber doch im Geist traditioneller Musik und ihres Zeitverständnisses gehalten. Das ist keine Kritik, da es zum Gehalt seiner Musik passt. Denn Kurtágs Musik ist eine der Erinnerungen, und dass die Erinnerung bei einem Menschen wie ihm, der in Ungarn das Scheitern des realsozialistischen Experiments erlebt hat, zum Utopieverlust führen kann (oder zur Rückkehr in die Religion, was an diesem Nachmittag nicht deutlich werden konnte), wird niemanden wundern. Salvatore Sciarrinos Streichquartett Nr. 8 (2009) anzuhören, war mir nicht möglich, weil ich zum Aufführungsort seiner Oper Luci mie traditrici, "Meine trügerischen Augen", eilen musste. Über sie schreibe ich morgen. Wie auch über Lucia Ronchettis Oper Der Sonne entgegen, die von ihr selbst als "Szenisches Konzert" bezeichnet wird. Ich habe auch sie schon gestern gesehen, sie wird aber heute wiederholt, um 20.30 Uhr in den Sophiensälen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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