Ein europäisches Schienennetz von Ultra-Rapid-Trains (URT) gehört in meinen Augen zu den wichtigen Projekten, die verhindern könnten, dass sich die Klimakatastrophe verstetigt. Doch es gibt Widerspruch, auch von Ökologen. Exemplarisch hierfür ist der Artikel von Bernhard Knierim in Ausgabe 6/2021 dieser Zeitung: „So nachvollziehbar“, lesen wir, „der Traum einiger Zugfans ist, ein europaweites Hochgeschwindigkeitsnetz aufzubauen, so verfrüht ist er in diesen Tagen: Erst neue Verbindungen zu bauen, würde die Verlagerung des Verkehrs auf die Schiene unnötig lange hinauszögern.“
Was ist nun einem solchen Einwand entgegenzuhalten? Es geht darum, den ökologisch so schädlichen Flugverkehr auf die Schiene zu verlagern. D
ogisch so schädlichen Flugverkehr auf die Schiene zu verlagern. Darin sind sich fast alle Ökologinnen einig. Aber wer das will, muss sich in die real existierenden Fluggäste hineinversetzen. Jene Ultra-Schnellzüge würden mit bis zu 350 Stundenkilometern durch Europa brausen. Von Berlin nach Paris zum Beispiel käme man in vier Stunden. Eine Studie von Jérôme Creel und anderen, im Auftrag von drei europäischen Wirtschaftsinstituten, hatte das durchgespielt („How to Spend it: A Proposal for a European Covid-19 Recovery Programme“, Juni 2020). Knierim aber wendet ein: „Bei den höchsten Geschwindigkeiten geht es nur noch um Fahrzeitverkürzungen im Minutenmaßstab. Größere Zeitgewinne lassen sich nur dann realisieren, wenn die Züge weite Strecken ohne Unterbrechungen fahren. Das wiederum führt aber dazu, dass die vielen Menschen entlang der Strecken außerhalb der Hauptstädte abgehängt werden. Die Bahn wie das Flugzeug als bloße Punkt-zu-Punkt-Verbindung zwischen den Metropolen zu denken, ist falsch, sie ist nur als Netzwerk von gut aufeinander abgestimmten Zügen durch das ganze Land wirklich nützlich.“Müritz statt Athen, im Ernst?Auf einen ersten Blick mag das plausibel klingen. Doch riskieren wir einen zweiten: Wenn die Bahn nicht „wie das Flugzeug“ funktioniert, wenn sie nicht, mit anderen Worten, dessen Vorteile sich selbst aneignet, warum sollten Fluggäste dann zum Umstieg bereit sein? Umgekehrt wird ein Schuh draus: Gerade weil das Flugzeug „große Strecken ohne Unterbrechungen“ fliegt, ist es kein Nachteil, vielmehr ein Vorteil, wenn Züge das auch tun und Flugzeuge dadurch überflüssig machen. Es ist ja auch nicht so, dass Netzwerke „von gut aufeinander abgestimmten Zügen“ gar nicht mehr vorhanden wären; sie könnten besser sein, aber sie sind da und Flugzeuge gibt es heute außerdem. Dementsprechend kann es morgen solche Netzwerke und außerdem URT statt Flugverkehr geben. Ein rationales Argument hiergegen könnte doch nur sein, dass man sagt, die Überwindung großer Strecken ohne Unterbrechung habe wenig Sinn oder Sinn nur für wenige Menschen. Das ist in Wirklichkeit aber ganz und gar nicht der Fall. Der Sinn ist die Touristik. Etwa die Hälfte aller Flüge wird von Touristen für eine längere Urlaubsreise angetreten. In einer Studie des Fraunhofer-Instituts für Solare Energiesysteme, ebenfalls vom Juni 2020, wird nach „Gründen für mehr Flüge in den nächsten zwölf Monaten“ gefragt; 69 Prozent geben an, „wegen eines Urlaubs“. Wichtig auch diese Frage: „Ab welcher Reisedauer, die Sie mit dem Auto oder der Bahn brauchen, würden Sie sich definitiv für das Flugzeug entscheiden?“ Für 72 Prozent sind das „mehr als zwölf Stunden“.Wer unter diesen Umständen ein echtes Äquivalent zum Flugzeug für unnötig hält, muss schon ernsthaft der Meinung sein, dass man den Leuten längere Urlaubsreisen, etwa von Berlin nach Athen, Palermo oder Lissabon, ausreden könnte und sollte. Können sie sich nicht im Spreewald erholen, am Müritzsee? Ich nenne diese Orte, weil ich sie kenne und großartig finde. Als Alternative für die Schätze Athens, die Akropolis, das Archäologische Nationalmuseum, kommen sie aber nicht in Betracht. Mein Interesse für die europäische Kultur, mich selbst also, lasse ich mir nicht nehmen. Ökologie selber würde ich nicht anders denn als Erhalt unserer Kultur und ihrer Entwicklungschancen definieren. Wer meint, so eine Ökologie brauchten wir nicht, soll das bitte laut sagen.Einige haben das ja getan. Aber Knierim gehört nicht zu diesen Leuten. „Europa in zwölf Stunden“ ist sein Text überschrieben. Ja, das ist eine radikale und die einzig richtige Losung. Das Problem ist nur, sie wird in Knierims Text nicht eingelöst, und er hat das auch gar nicht vor. Die „zwölf Stunden“ zitiert er lediglich, um darauf hinzuweisen, dass die Menschen nicht bereit seien, mehr als zwölf Stunden in einem Zug zu sitzen.Andererseits hat er mit seiner Betonung der Möglichkeit von Nachtzügen an eine wichtige Voraussetzung der „zwölf Stunden“ erinnert. Viele von diesen sind verschrottet worden, heute reden die Verkehrsminister europäischer Staaten, auch Andreas Scheuer, von ihrer Rückkehr. Wichtig sind sie deshalb, weil man die Schlafzeit wohl kaum mitzählen würde, wenn man zwölf Stunden im Zug zu sitzen bereit ist. Und Knierim rechnet vor, dass Züge schon heute 1.000 Kilometer in einer Nacht schaffen können. Wenn dann URT dazukämen, wären zwölf wache Stunden für alle europäischen Strecken durchaus denkbar. Nicht aber, wenn die Rückkehr der Nachtzüge das Einzige sein soll und man sonst nur das heute schon vorhandene Netz ausflickt. Das zeigt etwa die bereits bestehende ICE-Strecke Berlin–London: circa tausend Kilometer, circa zehn Stunden Fahrzeit. Von Berlin nach Athen oder Messina sind es aber mehr als zweitausend, nach Lissabon fast dreitausend Kilometer. Wir brauchen also schnellere Züge.Nun meint Knierim, die Realisierung dieser schnelleren Züge würde zu lange dauern. Die Realisierung würde „viele Jahre, vermutlich Jahrzehnte“ brauchen, so viel Zeit lasse uns die „akute Klimakrise“ nun einmal nicht. Aber das ist aus zwei Gründen falsch, einem naheliegenden und einem grundsätzlichen. Der naheliegende ist, dass vor allem Knierims Perspektive – Nachtzüge, das Vorhandene verbessern und weiter nichts – ihrerseits zu lange dauert. Scheuer redet davon, ja! Aber wie ich im Tagesspiegel vom 6. Februar dieses Jahres lese, teilt sein Parlamentarischer Staatssekretär, Enak Ferlemann, mit, dass eine Förderung von Nachtzugverbindungen mit Bundesmitteln nicht vorgesehen sei. Und die Bundesbahn hat nicht vor, neue Schlafwagen zu kaufen.„Rumfrickeln“ reicht nichtIm Grundsätzlichen hat Max Pieper in einem sehr guten Freitag-Blog gegen das Argument der Eile angeschrieben, die nun geboten sei. Zur Eile, argumentiert er, kann überhaupt nur aufrufen, wer an einem Status quo nichts Prinzipielles ändern will. So eile ich zum Bahnhof, um den Zug noch zu erreichen, den es samt Fahrplan schon gibt. „Wer von Eile spricht, spricht also aus der Logik des Gesellschaftsmodells, das uns überhaupt erst in die jetzige ökologische Misere gebracht hat. Und ebenjenes Gesellschaftsmodell soll sich nun eilig verändern.“ Ja, Neues zu etablieren, braucht Zeit. So fatal das auch sein mag, ein Argument gegen das Neue ist es nicht.Es geht hier tatsächlich um nicht weniger als ein neues Gesellschaftsmodell. Knierim selbst weist ja faktisch darauf hin, wenn er berichtet, dass einer Umfrage zufolge „zwei Drittel der Europäerinnen und Europäer als Klimaschutzmaßnahme sogar ein komplettes Verbot solcher Flüge, die durch eine Bahnreise von höchstens zwölf Stunden ersetzbar wären“, befürworten würden. Genau das müsste nämlich geschehen: Die Europäerinnen müssten über die Verkehrsarten in freien Wahlen entscheiden können, und zwar in der Art, dass deren Resultat bindend wäre. Solche Wahlen würden also Grenzen setzen, deren Übersteigung ganz einfach ein Verfassungsbruch wäre, nicht anders, als wenn heute die AfD versuchen wollte, mit hundert Mann mehr ins Parlament einzuziehen, als die Wahlen ihr zugestanden haben. Aber Knierim denkt auch hier nicht über den Status quo hinaus: Man muss den Flugverkehr verteuern, ist seine marktkonforme Idee, weil andernfalls „selbst ein gut ausgebautes europäisches Bahnnetz nur einen Teil der Menschen locken“ könne. Aber was hieße das hier anderes, als jene zwei Drittel, die zur Veränderung bereit sind, im Stich lassen?Die Forderung, ein europäisches Hochgeschwindigkeitsnetz zu bauen, verbunden mit dem Anspruch der Europäerinnen, selbst über es zu entscheiden, würde nebenbei auch Europa politisch zusammenführen. Wer von Berlin nach Paris in vier Stunden mit dem Zug fährt, der sieht nicht nur Paris, sondern auch aus dem Fenster, er sieht Europa. Eine neue europäische Partei sollte den Kampf darum aufnehmen: erstens für dieses Resultat einer freien Wahl, zweitens dafür, dass überhaupt frei gewählt werden kann.Bis zu einem gewissen Grad kommen die Grünen der Idee nahe. Sie sprechen sich für eine Verbindung der europäischen Hauptstädte mit schnellen Zügen aus. Für den inländischen Schienenverkehr haben sie ein detailliertes Programm vorgelegt. Kleine Korrekturen – ein „Rumfrickeln“, wie Anton Hofreiter, der Fraktionschef aus Bayern, sich ausdrückt – reichen nicht mehr. Aber auch die Grünen wollen mit all dem nur der Flugindustrie Konkurrenz machen. Die Flugindustrie würde sich aber wehren, mit noch niedrigeren Dumpingpreisen oder mit dem Versprechen, irgendwann sei sie wasserstoffbasiert, und darauf könne doch gewartet werden.Nein, es ist besser, sich an Karl Marx zu erinnern. Ein „Verein freier Menschen“, schreibt er in seinem Hauptwerk Das Kapital, wird die „Proportionen“ der Ökonomie ins „richtige“ Verhältnis „zu den verschiedenen Bedürfnissen“ setzen. Das ist seine Vorstellung einer neuen, nicht mehr kapitalistischen Gesellschaft. Würden die „freien Menschen“ zehnmal mehr Eisenbahn wählen, dafür zehnmal weniger Flugverkehr – keine Industrie dürfte sich darüber hinwegsetzen.
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