Trifft es euch so seid ihr taub

Musikfest 2012 Charles Ives im Vergleich mit Gustav Mahler

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Das gestrige Konzert mit der Sinfonie Holidays von Charles Ives war der erwartete Höhepunkt. Nicht nur weil man diese faszinierende Musik überhaupt einmal (wieder) in Berlin hören konnte, sondern auch wegen der überzeugenden Darbietung durch Michael Tilson Thomas und das London Symphonic Orchestra. Kaum glaublich Ives' Raffinesse, verschiedene musikalische Geschehnisse durcheinanderzumischen, wie sie an Festtagen gleichzeitig erklingen mögen oder teils von außen auf mich einwirken, teils in mir selbst aufsteigen, und kein Chaos kommt heraus, vielmehr ein harmonisch und rhythmisch mitreißender Gesamtsond; aber noch unglaublicher die Fähigkeit eines Orchesters, dies alles im Einzelnen subtil, im Ganzen organisch wiederzugeben. Die Londoner konnten es aufs Beste. Sicher muss es da auch eine angelsächsische Aufführungstradition dieser Sinfonie und ähnlicher Ives-Musik geben. Ich habe mich jedenfalls gefragt, ob ein deutsches Orchester da heranreichen könnte. Die Frage wird sich morgen und übermorgen beantworten, wenn die Berliner Philharmoniker unter Leitung des großartigen Ingo Metzmacher die 4. Sinfonie von Ives darbieten.


Denn sehr stark unterscheidet sich der "Geist" solcher Musik von dem der deutschen, so stark, dass ein deutscher Dirigent den Unterschied vielleicht nicht einmal mehr wahrnehmen kann. Zu begreifen hätte er schon einmal, und das wird er noch können, wie sich Ives' Art, empfangene Musikeindrücke zu zitieren, von derjenigen Gustav Mahlers unterscheidet. An dem hebt man ja auch hervor, dass er reale musikalische Geschehnisse aufgreift, nicht zuletzt auch Marschmusik, so dass der Vergleich mit Ives wirklich naheliegt. Man sagt über Mahler, er nehme sich bewusst einer bereits verbrauchten Musik an, und wenn er sie parodiere, dann in spürbarer Trauer um ihr Vergehen. Die Märsche indes, die Ives in Decoration Day und Fourth of July erklingen lässt (2. und 3. Satz von Holidays), gelten dem Komponisten nicht als verbraucht, im Gegenteil, er will diese patriotische Musik positiv herausstellen, und so hört sie sich auch an.


Aber ein anderer Unterschied ist noch wichtiger. Mahler hat an der typischen Innerlichkeit, am Subjektivismus deutscher Musik teil. Solche Musik gebärdet sich als Darlegung der Weltsicht des Komponisten. Sie lädt denn auch dazu ein, auf die Person des Komponisten rückzuschließen, so dass man sich Beethoven als hochfahrend leidenschaftlich, Bruckner als fromm und Mahler als depressiv vorstellt. Man muss trotzdem die Musik nicht als Darstellung des Komponistenschicksals verstehen, wie es nicht selten geschieht. Es ist bestimmt angemessener, in den Komponisten etwas wie "Monaden" zu sehen, die von der Welt als verschiedene Spiegel Verschiedenes einfangen. Ob Mahler depressiv war oder nicht, ist dann weniger wichtig als seine Fähigkeit, das objektiv Deprimierende zu erkennen und festzuhalten. Es kommt also zur Verschmelzung des von der Komposition Dargestellten mit der Perspektive des Komponisten, die im Dargestellten selber als solche hörbar wird. Will sagen, wenn Mahler einen Marsch zu Gehör bringt wie im ersten Satz seiner 5. Sinfonie (wo er ein Motiv der "Militär-Sinfonie", Sinfonie Nr. 100 von Joseph Haydn aufgreift), dann pflanzt er die Trauer, die er hinsichtlich des Marsches empfindet, dem Marsch selber ein, so dass wir einen Marsch hören, der sich selbst reflektiert und über sich selbst trauert.


Dergleichen ist typisch für die deutsche Musiktradition. Im ersten Satz der Dritten von Brahms zum Beispiel begegnen wir einem rauschenden Ballsaal, in dem Walzer getanzt wird - der Saal singt sich selber, oder Brahms selbst ist der Saal, den er beschreibt. Wenn die Sonne aufgeht bei Bruckner oder Strauss, dann hören wir den Aufgang als Begrüßung des Aufgangs durchs erwachende Subjekt. Das mag selbstverständlich scheinen, ist es aber nicht. Die Märsche bei Ives haben über ihre Partitur und deren Intonation hinaus keine Seele, mit der sie uns noch zusätzlich ansprechen. Sie werden in ihrer Objektivität belassen. Ein Phänomen übrigens, wie es auch in der russischen Musik begegnet, bei Strawinsky, Prokovjef oder Schostakowitsch. Man denke nur an den Militärmarsch in der Leningrader Sinfonie des Letzteren. Und auch sonst nimmt die Musik der Genannten keinen psychologischen oder bekennenden Charakter an. Dies hat noch Adorno dazu verführt, die Musik Strawinskys zu verurteilen und regelrecht abzukanzeln im Vergleich mit der Musik Arnold Schönbergs, der selbst noch in seinen Zwölfton-Kompositionen den deutsch-bekennenden subjektiven Musikstil beibehält.


Die Musik von Ives ist nicht bekennend noch psychologisch, allerdings lässt sie das Subjekt doch vorkommen, und dafür ist Holidays das beste Beispiel. Wie Ives sagt, versetzt er sich hier in seine Kindheit zurück, wo er all die Feiertage und ihre Geschehnisse erlebt hat, ohne ihren Sinn zu begreifen. So stellt er in Decoration Day die Trauer über die Gefallenen des Bürgerkriegs nicht als eigene, sondern in der Umgebung wahrgenommene Trauer dar: wohl als vom Kind mitgelebte, denn es wusste schon, dass es dazugehörte, nicht jedoch als verinnerlichte. Dafür, wie sich dann traurige Musik anhört, kann der deutsche Zuhörer, der es nicht gewohnt ist, auch keine Worte finden. Er ist jedenfalls betroffen. Was die Einbeziehung noch des Subjektiven als eines von außen Wahrgenommenen angeht, ist Thanksgiving and Forefathers' Day, der letzte Satz von Holidays, besonders interessant. Hier lässt sich am Ende ein Chor hören, er singt das Loblied auf die Pilgrim Fathers: "And when they trod the wintry strand, / With prayer and psalm they worshipped Thee." Das ist wie in Beethovens Neunter, im letzten Satz meldet sich die menschliche Stimme. Aber es hat nicht den Charakter, dass die Musik zuletzt zu sich selbst kommt und ein Wesen entbirgt, das schon in den vorausgegangenen Instrumentalsätzen lag. Sondern auch der Chor ist "nur" ein Musikgeschehnis neben den anderen. Es ist der subjektive Faktor als objektiver neben anderen objektiven.


Und so wurde er von Tilson dirigiert. Ganz zurückhaltend nur fügte der Chor sein Lied dem Übrigen hinzu. Hierin zum Beispiel war Tilsons Aufführung noch besser als diejenige Leonard Bernsteins, die auf einer bei Sony classical erschienenen CD festgehalten ist, denn bei diesem dreht der Chor auf und setzt sich als Schlusspunkt. Dabei ist es doch eindrucksvoll genug, wenn zum Schluss auch der Chor dem Geschehen, ohne dominant sein zu wollen, ja zu können, überhaupt beitritt.


Wir fragen uns nun auch, auf welche Art die erwähnten russischen Komponisten den subjektiven Faktor in ihre objektiv ausgerichtete Musik einflechten. Hier ist es ein Fortschritt, dass die Frage überhaupt formuliert werden kann. Denn Adorno hatte sich zu der unsinnigen Spekulation hinreißen lassen, dass die Musik Strawinskys einen rückständigen Grad von Individuierungsfähigkeit in der russischen Kultur widerspiegele. Das braucht uns nicht mehr zu beschäftigen. Vielleicht ergibt sich einmal die Gelegenheit, der Frage nachzugehen. Hier möchte ich noch bemerken, dass es auch in der deutschen Kunst mindestens einen berühmten Fall gibt, wo der Sonnenaufgang - eins unserer Beispiele für ein musikalisch dargestelltes objektives Phänomen - nicht vermischt mit den Gefühlen dargestellt wird, die man ihm entgegenbringt, sondern in deutlichster Trennung des Objektiven vom Subjekten. Das geschieht so am Anfang von Faust II.


Goethe spricht da vom "Getöse", das der Sonnenaufgang verursache. Die Geister, die es hören können, müssen "zu den Blumenkronen [schlüpfen]", "Tiefer tiefer, still zu wohnen", denn "Trifft es euch so seid ihr taub". Analog würde der Mensch erblinden, wollte er in dies Objekt hineinsehen, und in einer weiteren Analogie würde es Faust umbringen, wollte er nicht anerkennen, dass seine Endlichkeit in keiner Weise in die Unendlichkeit Gottes und der Natur überzugehen vermag. Zur Scheidung des Endlichen und Unendlichen kommt es in der großen deutschen Musik zwischen Beethoven und Mahler gerade nicht, bei Goethe aber führt sie zu jener bekannten objektivierenden Sicht, die in weiten Teilen von Faust II das Subjekt vor den dargestellten Phänomenen völlig in den Hintergrund treten lässt. Der Dichter selbst hat sein Theater deshalb, lange vor Brecht, als "episches" bezeichnet: Es läuft wie bei diesem darauf hinaus, dass der Zuschauer sich mit dem dargelegten Objektiven nicht identifiziert, vielmehr als unabhängiger Richter ihm gegenübertritt.


Zum Konzert der Philharmoniker unter Metzmacher schreibe ich Anfang nächster Woche, spätestens am Dienstag. Auf dem Programm steht neben der Vierten von Ives noch andere US-amerikanische Musik: die Cuban Overture von George Gershwin, A Jazz Symphony von George Antheil und die Symphonic Dances aus der West Side Story von Leonard Bernstein. Die Vierte hat einen Klavierpart, der von Pierre-Laurent Aimard interpretiert wird. Der spielt im Anschluss an das Samstagskonzert noch die Klaviersonate Nr. 2 von Ives, Concord, Mass., 1840-60 ("Concord-Sonate"), die wie die Vierte als ein Hauptwerk des Komponisten gilt.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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