Über das Verschwinden

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Das Rituel in memoriam Bruno Maderna für Orchester in acht Gruppen, komponiert 1974/75 nach dem Tod des Genannten, ist sicher eins der wichtigsten, wenn auch nicht der bekanntesten Werke von Boulez. Wichtig schon deshalb, weil es sich recht stark von anderen Boulez-Werken unterscheidet und man daher im Kontrast begreift oder ahnt, worin die Werke des Komponisten eine Familie bilden; was sie eint, was sie differenziert. Sie hören sich eben keineswegs alle gleich an.

Wolfgang Rihm scheint das suggerieren zu wollen, wenn er den Boulezschen Klang charakterisiert. "Boulez", sagt er, "ist für mich ein Künstler der durch und durch abgedunkelten, ja düsteren Farben und Energien. Die meisten Komponisten arbeiten mit Helligkeitsgraden. Boulez scheint die Abschattierung des Dunkels zu erforschen. Es herrscht ein Klang der Distanz, der belegten Stimme, manchmal einer des fernen Dröhnens. Seine Gewalt liegt in seiner Diskretion." Das sind wunderbare Sätze, aber sie scheinen mir doch vor allem zu zeigen, von welchen Boulez-Kompositionen Rihm am meisten beeindruckt ist (für Figures - Doubles - Prismes, über die ich gestern schrieb, treffen sie nämlich nicht zu, ich wage das zu behaupten); er nennt sie gleich anschließend: vom Rituel und vom ersten Teil des Mallarmé-Portraits Pli selon pli. Hier in der Tat "lässt sich der Klang vernehmen, als schlüge auf ihm das Kondensat anderen Klingens sich nieder", Rihm spricht auch von einer "Alchemie" der "Mischklänge", die sich "zur Anrufung des Dunkels" eigne. (Laudatio auf Pierre Boulez, in Musik-Konzepte 89/90, München 1995, S. 7-15, hier S. 12)

Ich würde sogar diese beiden Kompositionen nicht unter eine Klangrubrik subsumieren wollen. Es ist wahr, sie sind beide "dunkel", aber doch auf verschiedene Weise. Pli selon pli, das Sonntag Abend gegeben wird, evoziert nach meinem Empfinden die Nacht des Nihilismus und tut es, was das Grauen noch steigert, aus einer so angsterfüllten wie nüchternen Beschreibungshaltung heraus; beim Rituel, das gestern zu hören war, handelt es sich um etwas sehr viel Konkreteres, nämlich den Tod des Freundes und Komponisten-Vorbilds Maderna und sicher auch, es lässt sich nie trennen, den eigenen Tod. Dies ist eine Anrufung nicht nur des Dunkels, sondern der Verzweiflung. Bei Pli selon pli habe ich das Gefühl des Benjaminschen Netzes, das ich "nicht zuziehn kann", weil ich selbst in ihm stecke, also einer k o n f u s e n Nacht, während die Nacht des Rituels gerade durch ihre Deutlichkeit erschreckt. Denn was der Tod ist, begreift man sehr gut, hier kann sich allenfalls die Frage stellen, ob man damit lebt oder es verdrängt. Boulez verdrängt nicht.

Er hat es wirklich als Ritual gestaltet, schon räumlich. Die räumliche Disposition war in früheren Berliner Aufführungen nicht realisiert worden. Es gibt verschiedene Orchestergruppen, die das hörende Publikum umzingeln. Der Dirigent, am gestrigen Abend Lothar Zagrosek mit dem Konzerthausorchester Berlin, dirigiert vor einem leeren Podium; die Hauptgruppe des Orchesters ist hinter diesem aufgestellt, da, wo sonst ein Chor sitzt. Es ist ein Ensemble von Gongs und Blechbläsern: Diese Gruppe verkörpert den gewalttätigen Aspekt des Todes, seine Unumkehrbarkeit und trostlose Feierlichkeit. Die Bläser verkünden, was man weiß und versteht; die Gongs suggerieren den Kontakt mit einer Geisterwelt. Die musikalische Botschaft ist monoton. Die anderen Orchestergruppen vertreten die Trauergemeinde mit teilweise zarten Klängen, differenziert und immer differenzierter, so dass man in der Überlagerung bald keine Details mehr hört. Da die Gemeinde aus Individuen besteht, spielt eine Oboe solistisch.

Der Gesamteindruck ist bei aller Differenziertheit ebenfalls monoton, und darin liegt das Besondere, für Boulez ganz Ungewöhnliche dieser Komposition. Die Erinnerung an traditionelle Kondukte stellt sich ein. Mich erinnert sie an den Trauermarsch aus Beethovens Eroica, mir kommt es so vor, als hätte ich Vieles gehört, was dem Zitat nahe kommt. So schon das immer wiederkehrende Hauptmotiv, ein herausgestoßener Ton mit Vorschlag, der in Beethovens Trauermusik eine Nebenrolle spielt, hier aber zur Hauptsache wird. Vom Konzert zu Hause, habe ich die Eroica gleich aufgelegt und war überrascht von der großen Nähe zwischen Beethoven und Boulez, die ich zu hören meinte. Ich glaube, die Abfolge beider Komponisten an einem Konzertabend könnte nie störend wirken. Man würde nicht nur in Boulez Beethoven, sondern auch sozusagen in Beethoven Boulez hören. In Beethovens Werken muss es schon eine starke Eigenständigkeit der rhythmischen und dynamischen Dimension, vielleicht Elemente von Planung derselben gegeben haben.

Wie Boulez bisher auf dem Musikfest mit anderen Komponisten zusammengestellt wurde, empfand ich meist störend. Vorgestern zum Beispiel kam Ravels Daphnis et Cloé nach den Figures - Doubles - Prismes. Das passte nicht. Gestern war es besser. Dem Rituel ging die orchestrierte Fassung eines Teils der Préludes von Debussy durch Hans Zender voraus. Diese in Debussys Geist eingerichtete Orchestrierung zeigt tatsächlich eine ähnliche Klangbehandlung, wie man sie bei Boulez hört. Nicht "inhaltlich" zwar - die Préludes sind alles andere als eine Trauermusik -, wohl aber "formal", was, wie immer, Boulez selbst am besten erklären kann: "Bleibt man nur bei der Strukturierung, dann gibt es einen Mangel an Ausdruckskraft und zu viel Technik. Die Technik aber sollte nicht so sichtbar in Erscheinung treten. Deshalb ist auch dieser Einfluss von Debussys Musik so wichtig, in welcher die Technik so gemeistert ist, dass man nicht mehr sehen kann, wie seine Musik gebaut ist. Und wie! Sehr, sehr präzise - zum Beispiel in den Etüden. Aber man merkt das nicht. Debussys Musik ist sehr direkt - und gleichzeitig voller Geheimnisse." (Barbara Zuber, Komponieren - Analysieren - Dirigieren. Ein Gespräch mit Pierre Boulez, in Musik-Konzepte 89/90, a.a.O., S. 29-46, hier S. 40)

Wie Beethoven vielleicht die Rhythmen, so hat Debussy schon ansatzweise den Klang geplant. Im Nachhinein kann man Schritte auf dem Weg zum Serialismus darin sehen. Überhaupt scheint der Klang eine französische Domäne zu sein. Boulez hebt ja auch hervor, dass nicht nur Debussy, sondern schon Berlioz die endgültige Orchestrierung erst vornimmt, wenn er das komponierte Werk hat hören können, was sogar, wenn ich das richtig verstehe, zu einer nachträglichen Änderung der anderen Parameter führen kann: Die Partitur-Skizzen, "im Kompositorischen vollständig abgeschlossen, warten noch auf die Erschließung durch das Orchester, die der Komposition all ihre Dimensionen und ihr vollgültiges Relief geben soll" (Wille und Zufall, Stuttgart Zürich 1977, S. 21).

Da wir bei den Parametern sind: Interessant war auch, neben Boulez, Debussy und noch einmal Berio den polnischen Komponisten Witold Lutoslawski zu hören, mit dem Doppelkonzert für Oboe, Harfe und Streichorchester. Lutoslawski schreibt Zwölftonmusik, aber in traditionellen Rhythmen, und deshalb scheint es, als unterscheide sich der Geist dieser Musik doch nicht von dem des 19. Jahrhunderts. Es reicht tatsächlich nicht, nur den Grundton zu verbannen, wenn man der Illusion des immer schon vorhandenen Grundes entkommen will. Der Serialismus, dem man das seltsame Motiv unterstellte, "alles durchkonstruieren zu wollen", ist in Wahrheit der konsequente Versuch, die Illusion wenn schon, dann überall zu verbannen; auch im Rhythmus, auch im Klang.

Ich möchte noch die programmatischen Verse zitieren, die Boulez der Partitur des Rituel voranstellt: "Wie Sang und Gegensang für eine / imaginäre Zeremonie. // Zeremonie des Gedenkens, daher die / ständige Rückkehr zu denselben / Formeln, jedoch mit abgewandelten Zügen / und in neuer Sicht. // Zeremonie des Absterbens, Ritual / des Vergehens und des Fortbestehens; // So prägen sich die Bilder dem / musikalischen Gedächtnis ein, / gegenwärtig/vergangen, immer im Zweifel." Eine charakteristische Auffassung davon, was Vergangenheit ist, kommt in diesen Worten zur Sprache, wenn man sie nämlich in Kenntnis der auf sie folgenden Musik liest. Um zu gedenken, stellt Boulez das Vergangene auf die andere Seite eines Grabens, über den keine Brücke führt. Man kann es beschwören und in aller Form anerkennen, aber das ändert nichts an der Hauptbotschaft, dass es nicht mehr da ist, überhaupt nicht mehr ist, n i c h t i s t . Boulez hat sicher auch an Wagners Musik auf Siegfrieds Tod gedacht, als er das Rituel komponierte. Er hört sie so: "Ja, es ist die praktische Zertrümmerung einer Illusion. Die Illusion Siegfried wird vor uns absolut zertrümmert." (Gespräch mit Hans Mayer, in Wille und Zufall, a.a.O., S. 141-171, hier S. 169) Ich höre sie etwas anders: Nur in ihrer ersten Hälfte wird Siegfried "zertrümmert", während die zweite darlegt, dass er trotzdem auch b l e i b t , durch den Tod nicht Nichts wird.

Über so Vieles könnte man noch nachdenken. Zum Beispiel wäre zu fragen, ob das Rituel von Boulez nicht eine ähnliche Funktion erfüllt wie der 1973 komponierte Tristan von Hans-Werner Henze. Auch Tristan ist eine Trauermusik, nämlich auf den Tod Ingeborg Bachmanns. Aber daneben reflektiert er die Zertrümmerung der chilenischen Revolution, überhaupt das Ende der Hoffnungen von 1968. Sollte es sich mit dem Rituel ähnlich verhalten? Doch ich will meine heute ohnehin etwas unsystematischen Notizen anders abschließen. Mit dem Hinweis darauf, dass es neben dem Rituel eine andere Trauermusik gibt, die zwar nicht von Boulez komponiert wurde, sondern von Clytus Gottwald, der aber ein Text von Boulez zugrunde liegt: sein in Versen formulierter Nachruf auf Theodor W. Adorno. Wäre es nicht passend gewesen, sie einmal vorzustellen, gerade auf diesem Musikfest?

Da das nicht geschehen ist, möchte ich, ersatzweise und kommentarlos, zwei Passagen aus dem Boulez-Text zitieren. Wie Boulez Adorno sieht, ist doch auch etwas, das ihn uns näher rücken könnte:

"Bleibt, sich die Diskrepanzen einer Individualität vorzustellen / : die ihre Talente zersplittert sieht, / der Zersplitterung nicht wehrt / - - nicht nur das, sondern - - / versucht, trotz sichtlicher Unvereinbarkeiten, als Antrieb sie zu nutzen; / : die, untrennbar, bewahrt und provoziert - - / nicht wehrt dem Humus und doch sieht, dass Fäulnis bestimmt ist, ihn zu nähren, / nach Schutz und Obdach sucht, indessen Brand und Feuer sie entzündet; / : die Wissen häuft und doch ohn Unterlass auf Einfalt neidvoll schaut."

"Die Arme voll Ähren, die Widersprüche - - - nicht gelöst, / die Mehrdeutigkeiten - - - nicht beseitigt, / mit denen die subtilste, die gewitzeste Dialektik nicht zu Rande kommt; / mit denen der gewitzeste, der subtilste Dialektiker seine Garben bündelt! / (Die Feld- und Waldmäuse werden nicht säumen, die Garben aufzuspüren und zu plündern...)" (Am Rande des, eines Hinscheidens:, in Anhaltspunkte, München 1979, S. 391-392. Gottwald benutzt eine andere Übersetzung, seine Komposition heißt Über das, über ein Verschwinden.)

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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