Über Hannah Arendts Totalitarismustheorie

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Dieser Beitrag gehört nicht zu meinem "Fortsetzungsroman" DIE ANDERE GESELLSCHAFT. Zu dessen nächster Folge (Nr. 18) werde ich hoffentlich in den nächsten Tagen Zeit finden, oder wenn nicht, dann Anfang Oktober, von wo an es auch wieder zügig und regelmäßig vorangehen soll. Das hier Folgende ist ein langer Ausschnitt aus meinem Artikel "Alle schweigen Hannah Arendt tot", den der "Freitag" am 17.7.1998 veröffentlichte. Er wird hier mitgeteilt wegen der Diskussion um Magdas Blog-Beitrag "Anders vergleichen" vom 3.9.2009. Ich hatte dort in einem Kommentar angekündigt, Arendts Totalitarimustheorie in einem weiteren Kommentar in drei Sätzen charakterisieren zu wollen. Doch das war zu viel versprochen, ich muß es ausführlicher machen.

Im Anschluß an die Wiedergabe des Artikelausschnitts folgen noch ein paar Sätze zu Karl Schlögels Buch "Terror und Traum. Moskau 1937" (München 2008).

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Alle schweigen Hannah Arendt tot

[...] Aber Arendt hat die Verbindung von Massenterror und Totalitarismus so gar nicht hergestellt. Sie hat vielmehr zwischen revolutionärem und totalitärem Massenterror unterschieden. Lenins revolutionären Massenterror hat sie n i c h t angegriffen. Sie hat weder den Zusammenhang von Revolution und Gewalt geleugnet, noch war sie der Meinung, es hätte nie Revolutionen geben dürfen. Keine russische, keine französische, keine puritanische, keine Bauernrevolution? Lassen wir modernen Ethiker zuletzt nur Luthers Aufforderung zum Totstechen der Bauern gelten? Nein, so eine Spießbürgerin war Arendt nicht, sie war Anhängerin der Rätedemokratie und im übrigen eben Totalitarismusforscherin. Als Forscherin fand sie eine neue, historisch bestimmte Art von Massenterror und nannte die davon befallenen Gesellschaften "totalitär". Im übrigen sah sie "totalitäre Tendenzen" in jeder kapitalistischen Gesellschaft, also in dem, was jetzt noch übriggeblieben ist nach dem Ende Hitlers und Stalins und seiner Epigonen. Was wird nicht alles aufgeboten, um diese Botschaft unhörbar zu machen! Ich sehe mich gezwungen, sie einfach einmal zu referieren.

Arendts Buch Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft umfaßt 750 engbedruckte Seiten, und man ist erschlagen von den vielen Scheußlichkeiten, an die sie erinnert. Doch was sie unter "Totalitarismus" versteht, kann recht knapp zusammengefaßt werden. Das meiste ist in diesem einen Satz angedeutet: "Totalitär ist nicht der Anspruch des revolutionären Rußland, daß unter den gegebenen Umständen die Diktatur des Proletariats die beste Staatsform sei, sondern die Kette von Folgerungen, die erst der totalitäre Machthaber aus diesem Anspruch zieht und die etwa besagt, daß hieraus logisch folge, daß ohne dieses System man niemals eine Untergrundbahn bauen könne, daß daher jeder, der die Pariser Untergrundbahn kennt, verdächtig ist, weil er ja an der ersten Folgerung zweifeln könne, und daß man daher, wenn irgend möglich, die Pariser Untergrundbahn zerstören müsse, welche 'eigentlich' gar nicht hätte existieren dürfen."

Ein totalitäres Regime erkennt man daran, daß es eine fiktive Welt schafft und an die Stelle der vorhandenen Welt setzt, statt diese etwa ändern oder gar nur beherrschen zu wollen. [...] Daraus ergibt sich der Massenterror: alles, was der Fiktion nicht entspricht, muß vernichtet werden. Der Herrschaftsbereich wird durchgekämmt: Was gefährdet den Glauben an die Fiktion, was könnte ihn in Zukunft gefährden? Herrschaftsbereich ist zunächst die eigene Partei, dann kann es eine ganze Gesellschaft sein, aber Arendt betont, daß ein totalitäres Regime versuchen muß, die Erde zu beherrschen, weil nur dadurch die Fiktionsgläubigkeit auch nur eines Individuums gesichert wäre. So sieht man auch, diese Strategie strebt dahin, den Unterschied zwischen Fiktion und Wirklichkeit selber zu beseitigen, die Fiktion eben zu realisieren, und zwar total zu realisieren. Arendt nimmt zugleich an, daß es keiner totalitären Herrschaft möglich ist, dieses Ziel je zu erreichen. Das Totalitäre ist also nicht Fiktions-Realisierung, die sich selbst aufhebt, sondern deren unmögliche, jedoch folgenreiche Strategie, die zwar immer scheitert, dabei aber grauenhaft schädlich ist, selbst wenn die Rest-Welt wie im Fall Nazideutschlands nur zwölf Jahre braucht, um die Gefahr zu erkennen und zu stoppen.

Die tiefste Frage ist infolgedessen die nach dem konkreten Inhalt dieser Fiktionen, denn daraus muß erklärt werden, warum man sie denn total realisieren will, anders als so viele bekannte und beliebte Märchen. Wie Arendt betont, ist hier nicht nach dem Inhalt der Klassenkampftheorie, ja nicht einmal der Rassentheorie des 19. Jahrhunderts zu fragen. Diese Formationen haben nur deshalb im Totalitarismus die Hauptrollen gespielt, weil sie aus der Geschichte der Machtkämpfe als Sieger hervorgegangen waren, die eine auf der linken, die andere auf der rechten Seite des politischen Spektrums. Nein, es gibt einen dritten Inhalt, der diese beiden zeitweise mächstigsten Formationen gleichermaßen penetriert und verändert hat und der sich durch folgende Elemente charakterisieren läßt: erstens, man glaubt, daß es Gesetze der Geschichte gibt, die ein für alle Mal erkennbar sind und tatsächlich erkannt wurden; zweitens, man glaubt, der Mensch habe die Pflicht, diese Gesetze zu exekutieren; drittens, man nimmt zwar an, diese Geschichte sei die Geschichte des Menschen, versteht dann aber unter "dem Menschen" ein einziges Totalwesen, nur die Gattung als solche und keineswegs die gewesenen, vorhandenen und noch ungeborenen Einzelmenschen. Einzelmenschen können daher, ja müssen notfalls, darauf läuft alles hinaus, um der "Gesetze der Geschichte des Menschen" willen vernichtet werden.

[...] Im 19. Jahrhundert hatte das Programm, die klassenlose Gesellschaft herbeizuführen, mit konkreten Vorschlägen auf historisch konkrete Probleme reagiert, und es war ein so anspruchsvolles Programm, daß ein Teil der Akteure glaubte, revolutionäre Gewalt und sogar revolutionärer Terror, ja Massenterror in der Tradition der französischen Revolution sei zur Umsetzung unvermeidlich. Aber den Anspruch, eine absolute Wahrheit über "den Menschen" zu verkünden, haben sie nicht gehabt. Deshalb ging kein t o t a l i t ä r e r Massenterror von ihnen aus. Diesen charakterisiert Hannah Arendt dadurch, daß er sich nicht mehr gegen konkrete Gegner richtet, nicht gegen Menschen, die durch ihr Tun schuldig geworden oder auch nur irgendwie "schädlich" sind. Sondern jeder Mensch, der ohne eigenes Wissen und Tun dem "Gesetz des Menschen" in die Quere kommt - einfacher noch: dessen Vernichtung diese Fiktion besser, schneller, gründlicher realisieren hilft - wird vom neuen totalitären Massenterror ergriffen und vernichtet.

Daß es nicht um Schädlichkeit geht, sieht man auch an der Art, wie die Vernichtung vorbereitet wird. Das ist eben nicht der Versuch, Gegner zu entdecken, um sie dann unschädlich zu machen, wie wir es, widerlich genug, von der Stasi kennen. Die Juden waren nicht Hitlers Gegner, entgegen dem, was Nolte behauptet. Es gab auch die trotzkistische Verschwörung nicht, die Stalin sich ausdachte, um das gesamte Personal der alten bolschewistischen Partei vernichten zu können. Sondern das ist der Versuch, die Fiktion zu realisieren, das heißt die in ihr behauptete Reinheit "des Menschen" durch Massenterror Wirklichkeit werden zu lassen. Zu diesem Zweck werden nicht Gegner entdeckt und eingekreist, sondern Teile der vorhandenen Menschheit "als lebende Leichname präpariert", die, wie die Machthaber andeuten, eigentlich schon tot sein müßten - überholte Rassen, "absterbende Klassen" - und deshalb mit gutem Gewissen auch tatsächlich umgebracht werden können.

In all dem, was ich referiert habe, ist noch nicht von der Vergasung der Juden die Rede gewesen. [...] Wird durch das, was die Jüdin Hannah Arendt lehrt, "die Einzigartigkeit von Auschwitz bestritten"? Damit reden sich ja die Gegner der Totalitarismustheorie heraus.

Ja und nein. Zunächst und vor allem nein. Hannah Arendt behauptet durchaus nicht, es hätte zwischen Auschwitz und dem GULAG keine Unterschiede gegeben. Die "unbeschreibliche und so ganz grundlose Grausamkeit in den deutschen Konzentrations- und Vernichtungslagern", schreibt sie, scheine "den russischen Lagern weitgehend gefehlt zu haben, wo man die Gefangenen mehr verhungern und erfrieren ließ als zu Tode quälte". Oder: "Mit einer verblüffenden Genauigkeit könnte man Konzentrationslager in Typen einteilen, welche den drei wesentlichen abendländischen Vorstellungen von einem Leben nach dem Tode im Hades, im Fegefeuer und in der Hölle entsprechen." "Das Fegefeuer stellt sich in jenen vorgeblichen Arbeitslagern der Sowjetunion dar, in denen sich Vernachlässigung mit chaotischem Arbeitszwang vereint. Die Hölle schließlich im wortwörtlichen Verstande bilden jene nur von den Nazis bis zur Vollendung ausgebildeten Typen, in welchen das gesamte Leben nach dem Gesichtspunkt der größtmöglichen Quälerei systematisch durchorganisiert war."

Dennoch ist allen Typen etwas gemeinsam, nämlich "daß die in sie verschlagenen Menschen so behandelt werden, als ob sie nicht mehr existieren". Genau daraus entsteht Arendts Urteil über die Gaskammern: "sie waren bestimmt für Juden oder Zigeuner oder Polen 'überhaupt', und sie dienten letztlich dem Beweis, daß Menschen überhaupt überflüssig sind. Innerhalb der Konzentrationslager waren diese zur Vernichtung bestimmten Kategorien die gleichsam wandelnden Exempel dessen, was ein Mensch überhaupt ist und wert ist", nämlich nichts. Arendt weist immer wieder darauf hin, daß Hitler nach den Juden die Herzkranken und ihre Familien als nächste Kategorie lebensunwerten Lebens gesellschaftlich isolieren wollte, was ihrer Auffassung nach wiederum eine "Präparierung zu Leichnamen" gewesen wäre.

Hiermit ist sicher eine Kontroverse angedeutet, in die man sich als Deutscher nicht einzumischen wagt, eine Kontroverse zwischen der Jüdin Arendt und anderen Juden, in deren Augen die Judenvergasung kein "Exempel" war, sondern ein religiöses Ereignis, das sie in theologischen Ausdrücken wie "Holocaust" und "Shoah" beschreiben. D i e s e Art von Einzigartigkeit hat Arendt in der Tat bestritten, da sie der Meinung war, daß sich so etwas wie Menschenvergasung durchaus wiederholen könnte und daß es dann auch andere als Juden und "Zigeuner" - vergessen wir die "Zigeuner" nicht - treffen könnte. Es könnte sich wiederholen, weil es nur die äußerste Spitze des Totalitarismus ist und weil totalitäre Tendenzen überall vorkommen. So findet sich später in Arendts Buch Eichmann in Jerusalem der Passus:

"Die erschreckende Koinzidenz der modernen Bevölkerungsexplosion mit den technischen Erfindungen der Automation einerseits, die große Teile der Bevölkerung als Arbeitskräfte 'überflüssig' zu machen droht, und mit der Entdeckung der Atomenergie andererseits hat eine Situation geschaffen, in der man 'Probleme' mit einem Vernichtungspotential lösen könnte, dem gegenüber Hitlers Gasanlagen sich wie die stümperhaften Versuche eines bösartigen Kindes ausnehmen."

Arendt hat noch mehr Unterschiede zwischen Nazideutschland und der Sowjetunion gesehen: "Im Gegensatz zu Deutschland", schreibt sie, "wo Hitler seinen Krieg bewußt dazu benutzte, das totalitäre System weiterzuentwickeln und gleichsam zu vervollkommnen, brachten die Kriegsjahre in Rußland die zeitweilige Aufhebung totaler Herrschaft mit sich." Aber verglichen hat sie eben schon. Sie hat die Unterschiede auf der Basis des Vergleichs herausgearbeitet, des Vergleichs aller Systeme des Massenterrors gegen Menschengruppen, die keine Systemgegner waren. Nach Stalins Tod wurde, wie sie 1966 rückblickend konstatiert, die totale Herrschaft in der Sowjetunion ganz abgebaut. [...]

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Die Umstände der "allgemeinen, freien und gleichen Wahlen" in der Sowjetunion 1937, wie Schlögel sie in seinem Buch aufarbeitet, illustrieren Arendts Satz über die "Untergrundbahn" recht gut und zeigen, daß er nicht so überzogen ist, wie man zunächst meinen möchte. Die Sowjetführung wollte diese Wahlen wirklich, jeder sollte sich wählen lassen können usw. Aber sie sorgte zugleich dafür, daß nicht die Falschen auftraten und sich zur Wahl stellten. Stalin gab Befehl, daß alle ehemaligen "Kulaken", soweit sie ihre Gefängnisstrafen schon abgesessen hatten, und sonstigen politischen Elemente, die irgendwie oppositionell werden könnten, entweder getötet oder in Lagern eingesperrt werden sollten, und er gab die Anweisung, die Zahl dieser Menschen solle vorher abgeschätzt und eine solche Zahl dann als Richtgröße den Verhaftungen zugrundegelegt werden. So wurde es von der Geheimpolizei ausgeführt, und indem man die anfänglichen Richtzahlen noch mehrmals erhöhte, kam es zum Großen Terror 1937/38, in dem anderthalb Millionen Menschen verhaftet, 85 Prozent von ihnen schuldig befunden, knapp 700.000 erschossen wurden. Auf diese Weise realisierte man die Fiktion "freie Wahlen". Und doch wagte es die Sowjetführung schließlich nicht, sie so frei ablaufen zu lassen wie ursprünglich von ihr selbst gewollt, sondern entschloß sich im letzten Moment, nur Wahllisten zuzulassen, in denen Parteilose mit Genossen zusammen kandidierten.

Mir ist es bei der Lektüre des Buches, das übrigens auch die gewaltigen Aufbauerfolge jener Zeit gebührend herausstreicht, so ergangen, daß ich dachte, die Erklärung für all diesen Wahnwitz sei doch noch gar nicht gefunden. Drei allgemeinere Einsichten sind aber, soweit ich sehe, herausgesprungen: Erstens, die Planwirtschaft funktionierte nur teilweise, statt das aber schon sensationell genug zu finden und einfach nur nach weiterer Verbesserung zu streben, wollte man in jedem Fehler, jeder Unzulänglichkeit, jedem Versagen und schon gar in allem, was sich momentan oder überhaupt als unplanbar erwies, weiter nichts als Saboteure am Werk sehen. Das bedeutet: Es war unmöglich, daß der Plan selbst unangemessen sein konnte, und es war unmöglich, in den Planenden etwas anderes als die Inkarnation des allfähigen, allmächtigen Menschen zu sehen. Zweitens, die Methode, mit der man die eingebildeten Saboteure fing, zeigt den interessanten Zug, daß man aufhörte, zwischen Möglichkeit und Wirklichkeit zu unterscheiden: Wer zum Feind werden oder einer sein könnte, wurde behandelt, als ob er es schon geworden wäre oder mit Sicherheit werden würde. Drittens, der Weltkrieg war absehbar und die Sowjetführung sah sich in einer nahezu aussichtslosen Lage. Da fällt mir dieses Rattenexperiment ein: zwei Ratten in einem Käfig, den man unter Strom setzt, und ihre Reaktion ist, daß sie übereinander herfallen. Übertragen auf die Sowjetunion, kann man vielleicht sagen: Nicht d a ß sie übereinander herfielen, war "totalitär" – wenn wir den Ausdruck als spezifischen Begriff nehmen und nicht als allgemeines Schimpfwort für das Verbrecherische, "das Böse" usf. -, aber w i e sie es taten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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