Ultraschall Berlin – Festival für neue Musik, das waren wieder drei Orchesterkonzerte und vieles andere in einer halben Woche (18.-22.1.). Mit am reizvollsten an diesem Festival, das von Deutschlandfunk Kultur und rbbKultur zum 25. Mal veranstaltet wurde, sind für mich die Auftritte zweier im Ganzen klassisch besetzter Orchester – das Schlagzeug natürlich ausgenommen, das immer verstärkt und variiert ist –, des Deutschen Symphonie-Orchesters Berlin (DSO) und des Rundfunk-Sinfonieorchesters Berlin (RSO), als längst nicht mehr selbstverständlicher Klangkörper zur Wiedergabe neuer Musik.
Denn man hat im Ohr, wie sich traditionelle Orchestermusik anhörte, und kann vergleichen – den Klang wie die damit verbundene Idee. Vor allem die
– den Klang wie die damit verbundene Idee. Vor allem die klanglichen Innovationen der letzten Jahrzehnte waren gewaltig. Heute frage ich mich, ob da noch etwas ist, das sich weiterentwickeln könnte. Freilich kam nicht alles Typische in die Auswahl, so hätte mich der Stand der mikrotonalen Arbeit interessiert. Wie auch immer, einige Kompositionen, die ich jetzt hörte, haben mich beeindruckt. Über drei davon will ich schreiben.Liza Lim: Mary/ Transcendence after TraumaBeeindruckt hat mich am Mittwochabend beim Eröffnungskonzert des DSO unter Lothar Zagroseks Leitung das Stück der australischen Komponistin Liza Lim: Mary/ Transcendence after Trauma (2020/21) für Orchester. Es nimmt Bezug auf die Verkündigung der Geburt Jesu durch den Erzengel Gabriel, der dazu, nach dem Lukas-Evangelium, Jesu Mutter Maria besuchte. Besonders aus der italienischen Malerei kennt man viele Gestaltungen der „Annunciazione“, wo immer auch die Transzendenz dargestellt oder angedeutet ist durch die Anordnung, dass zwischen dem Engel links und Maria rechts eine Achse verläuft, eine Straße etwa, die im fernen Horizont sich verliert; ganz natürlich sieht sie aus, zweifellos aber, sagt man sich, kann sie nicht überquert werden, weder vom Engel zu Maria hin noch umgekehrt – so wenig wie in Bunuels Film Der Würgeengel die Partygäste ihren Raum durch die Tür verlassen können, obwohl sie offensteht.Von Liza Lim wird zitiert, sie habe den „Besuch des Engels, Geburt als Vorbote der Passion, Zeugnis, Mysterienspiel, Erleuchtung menschlicher Qualen, Vergebung“ reflektieren wollen und zwar aus Marias Perspektive, der Frau, die gebären wird, wobei viele Bezugnahmen der Komposition, über die sie uns informiert, uns zeigen, dass sie wirklich an Maria und Jesus gedacht hat und nicht nur an die Mutter überhaupt, die für ihr Kind etwas erhofft und sich um es sorgt. Aber dennoch spielt das Letztere mit, indem sich Lim in Maria hineinzuversetzen versucht und es ihr auch, wie sie sagt, wichtig ist, die aktive Rolle der Mutter Jesu bei dieser Verkündigung zu betonen. Denn Maria stimmt zu, sie bejaht, was ihr angekündigt wird. Lims Gedanke impliziert, dass sie das nicht hätte tun müssen. Man denkt hier auch an Hannah Arendt, den Neuanfang, den jede Geburt bedeutet, die daher in jedem Fall etwas Metaphysisches hat.In Lims Musik hört man, was Maria erwartet, Triumphszenen neben stillen Momenten. Auf die „Qualen“ der „Passion“, von denen Lim spricht, wird nur von ferne verwiesen. Sehr stark fand ich eine Stelle, die sich wie ein grandioses Gemälde in Tönen anhörte. An Gemälde denkt man ja praktisch immer bei neuer Musik, weil sie nicht mehr, wie die alte tonale, auf Ziele hin sich entwickelt, von der Nacht zum Licht etwa, sondern eher Zustände vorstellt, deren Einzelheiten nacheinander ablaufen, eben als wenn sich die Augen nach und nach mit den Einzelheiten eines Gemäldes vertraut machen.Hier bei Lim erfasste man das ‚Gemälde‘ aber mit einem ‚Blick‘, Gewaltiges im Hintergrund, verschieden davon die zarte Landschaft links und so weiter. Man könnte sich vorstellen, etwas wie die ganz verschiedenen Gruppen auf dem Fresko „Predigt und Machenschaften des Antichristen“ von Luca Signorelli seien alle nur in Tönen durch ihre gegenläufige Bewegtheit repräsentiert, dann käme ein solcher Eindruck zustande. Bei Lim muss man sich natürlich inhaltlich das Gegenteil vorstellen – Weltszenario eines Kindes, in das Hoffnungen gesetzt werden. Vielleicht dachte sie an die Annunciazione von Fra Angelico in der Chiesa del Gesù in Cortona, auf die sie selbst hinweist. Und wo, nebenbei, die Transzendenz durch eine Säule zwischen Maria und dem Engel dargestellt ist: Der Engel hat die kleine Säulenhalle nicht ganz und gar betreten, in der Maria auf einem Stuhl mit hoher Lehne sitzt, denn ein Teil seines Saums und die Hälfte der Flügel bleiben draußen; vor allem teilt aber die Säule im Inneren der Halle das Bild, wo wiederum Maria ein Stück ihres Saums dem Bereich des Engels links von der Säule nicht entzieht – und ja, wenn man Lim gelesen und gehört hat, fragt man sich tatsächlich, wie Maria denn reagieren wird, wenn sie die Botschaft gehört und bedacht hat. Man glaubt zu sehen, dass Fra Angelico eine Situation mit offenem Ausgang gemalt hat.Bernhard Lang: Monadologie VII – KammersinfonieAm selben Abend erklang Monadologie VII – Kammersinfonie (2009) für Kammerorchester von Bernhard Lang mit der Widmung „für Arnold“, womit Arnold Schönberg gemeint ist. Lang teilt mit, dass er mit „kleinsten Ausgangszellen als Generatoren des gesamten musikalischen Materials“ arbeitet und auf diese Weise verschiedenste Stile der Musikgeschichte, angefangen mit der Gregorianik, beziehungsweise die Idiome, Idiolekte einzelner Komponist(inn)en wie hier Schönbergs, in „historisch-analytische[n] Fallstudie[n]“ durchleuchten will.Von Schönbergs zweiter Kammersinfonie ist mir selbst das melancholische und wohl auch fatalistisch zu nennende erste Thema sehr vertraut, mit dessen „Analyse“ Lang einsetzt. Er zerlegt es in ein Spektrum, als wenn es, das ja eine kompakte Einzelheit ist, seinerseits aus verschiedenen Einzelheiten, und auch Allgemeinzügen daneben, besteht, die er so zusammenspielen lässt, dass das Flair der Originalmelodie erkennbar bleibt, wenn auch verfremdet ist. Man könnte von verschiedenen Dimensionen der Originalmelodie sprechen, wobei es einer Musik nicht schwer fällt, weit mehr als drei oder vier Dimensionen ins Spiel zu bringen (oder vielleicht ist es ihre Fähigkeit, die Zeit als hinzutretende Dimension zu Gehör zu bringen), den musikalischen ‚Raum‘ also, der sich vom physischen so sehr unterscheidet.Ja, auch wenn eine Melodie unisono gespielt wird, kommt zu ihrer Einzelheit notwendigerweise hinzu, dass sich diese in einem Raum entfaltet; auch wenn das Publikum still ist und man nur die Melodie hört, ist der Raum da. Und was ist das für ein Raum, wenn nicht der Frageraum aller einzelnen Zuhörerinnen? Immer doch wird sie in ein komplexes, wenn auch unbewusstes Gefüge von Erwartungen eingeschrieben und derart so oder so verstanden. Auch Lang konnte nicht anders „analysieren“, das heißt seine Analyse zeigt natürlich nicht, wie Schönbergs Motiv ‚objektiv ist‘ – als ob er einen view from nowhere auf es geworfen hätte –, sondern zeigt seine, Langs musikalische Aneignung. Eine kurze Coda hörte sich an (und jetzt muss ich ja ergänzen: in wiederum meiner Aneignung von Langs Musik über Schönbergs Musik), als erinnere ihn Schönbergs Musik an The Unanswered Question von Charles Ives, was jedenfalls ein interessanter Brückenschlag wäre.Aber gerade bei dieser Komposition, so eindrucksvoll ich auch sie fand, habe ich mich gefragt: Warum macht man so etwas? Ist denn die Musikgeschichte vorbei, kann man nur noch auf sie zurückblicken?Helmut Lachenmann: StreichtriosDiese Frage konnte man sich auch am Samstagnachmittag stellen, als das trio recherche (Melise Mellinger, Sofia von Atzingen, Asa Akerberg) in der Kuppelhalle von silent green die beiden Streichtrios von Helmut Lachenmann aufführte. Das erste Streichtrio wurde 1965 komponiert, als Lachenmann nach einer Selbständigkeit seinem Lehrer Luigi Nono gegenüber suchte. Von Nonos „radikal-punktuelle[r] [...] Praxis und Ästhetik des Seriellen“, schreibt er dazu, wollte er sich „lösen, ohne die Substanz des dahinterstehenden Konzepts aufzugeben, nämlich die Reflexion der Mittel als dem eigentlichen Gegenstand des Komponierens“.Er habe deshalb mit Nonos Regressionsverbot „dialektisch“ umgehen wollen, indem ein „vorsichtig, noch einmal quasi mit Herzklopfen entwickeltes figuratives Spiel – undenkbar bei meinem Lehrer, weil bei ihm konsequent 'überwunden' und weit hinter sich gelassen – sich selber auslöschen sollte“. Was herauskam, nennt er „a-punktuell“, das ist es aber insofern, als das Punktuelle als Teil des Ganzen in die „auslöschende“ Entwicklung eingebettet ist. Und da die Komposition immer im Ganzen gehört wird, kann von Auslöschung eigentlich gar keine Rede sein: Das Auszulöschende bleibt – ob am Anfang, am Ende, ändert in einem Kunstwerk gar nichts an seiner Existenz. Denn ein Kunstwerk, je mehr man es kennt, ist immer als Ganzes gegenwärtig.Hier ist sie also noch, die aus traditioneller Musik bekannte Entwicklung, nicht per aspera ad astra diesmal, sondern vom zu Beginn deutlich sich vorstellenden Figurativen zu den „Punkten“, vom musikalischen Gegenstand zum musikalischen Raster. Wobei ich gleich sagen möchte, dass mir die Wahrnehmung serieller Musik als „punktuell statt figurativ“ gar nicht nachvollziehbar ist. Ist sie nicht beides? In meiner Jugend hatte ich die Gewohnheit, nach der Rückkehr von einer Reise als Erstes meine Lieblingsstücke aufzulegen. Dazu gehörte das zweite Stück einer seriellen Komposition, Le Marteau sans maître (1955) von Pierre Boulez; dieses zweite Stück bezieht sich auf Verse von René Char, zu deutsch etwa: „Henker der Einsamkeit // Der Schritt hat sich entfernt der / Wanderer ist verstummt / Auf dem Zifferblatt der Imitation / Wirft die Unruh ihre reflexartige Granitladung ab.“ Und genauso hört es sich an, eine ziellos sinnierende Flöte zunächst, dann etwas Lärm. Wenn das nicht figurativ wäre, hätte es mir jedenfalls nicht zum Eingangstor in diese Art Musik werden können.Aber Lachenmann, der diese Musik anders wahrnahm (vielleicht wegen der Verschiedenheit des Komponierens von Boulez und Nono? Das kann ich jetzt nicht beurteilen), hat daraus etwas gemacht. Ich denke, sein späteres Konzept des „Strukturklangs“ könnte sich daraus erklären: Das sind, wie Lachenmann erläutert, zwar etwas wie Akkorde, keine aber, wo sich alle beteiligten Töne in einem und demselben Zeit‚punkt‘ versammeln, sondern deren Lagen sich etwas auseinanderziehen, dabei gegeneinander verschieben, auch je in sich zerfasern, so dass der Akkord, der nun keiner mehr ist, sondern vielmehr eben ein „Strukturklang“, zwar immer noch kurz aber doch eine komplexe Bewegung geworden ist – er ist, mit anderen Worten, „figurativ“ geworden. Auch hier also werden das Figurative und das Punktuelle eins, wenn auch ganz anders als bei Boulez. Die ‚klassischen‘ Kompositionen, in denen Lachenmann mit diesem Konzept gearbeitet hat, ordnen solche Strukturklänge wie Perlen hintereinander an, nicht auf einer Kette freilich, sondern im Leeren.Dass Lachenmann mit dieser Kompositionsweise etwas ganz Wesentliches entdeckt hat, zeigt der Vergleich mit dem Anfang der vierten Sinfonie von Johannes Brahms, die sich, wenn man Lachenmann im Ohr hat, nun ihrerseits anhört wie eine Folge von „Strukturklängen“, eingetragen in eine Leere. Was hat er da entdeckt? Vielleicht was Gegenwart ist. Gegenwart ist kein physikalischer Jetztpunkt, wie man auch etwa bei Husserl lesen kann. Sie lässt sich natürlich auch musikalisch nicht durch „Punkte“ darstellen. Was wäre aber Musik ohne Gegenwart (der Zuhörerinnen, zu denen sie doch sprechen will)?Man denke auch an die berühmte Musikreflexion Augustins, auf die ich schon anspielte und die Husserl auf seine Art weiterführt: Eine ganze Melodie wird, zumal wenn man sie kennt, als eine einzige Gegenwart empfunden, obwohl ihre Elemente zeitlich – aber diese Zeit ist eben nicht einfach die physikalische – aufeinander folgen. Lachenmann gehorcht zwar nicht Augustins Muster, das die Leere vergisst, hat aber seinerseits das Muster nicht vergessen. Er betont immer wieder, dass seine Töne und Klänge Ränder des Leeren bezeichnen. In Mes Adieux, seinem zweiten Streichtrio von 2021/22, wird diese Leere streckenweise so extrem hörbar - weil nur noch weit auseinanderliegende Tonpunkte sie unterbrechen – wie vorher in seinem Werk wohl nur selten.Hier aber, so sagt er, habe er das Gegenteil von dem, was er im ersten Trio und danach immer vorhatte, tun wollen: nicht vom Bekannten ins Unbekannte, sondern vom Unbekannten (wieder) ins Bekannte vorstoßen. Und auch das ist ohne weiteres hörbar, denn gerade nachdem die Musik sich dem Zustand gänzlicher Leere am meisten genähert hat, spielt sie an auf aus der Tradition vertraute Klangfelder. Und endet so. Und da denkt man an Bernhard Langs Monadologie und fragt sich erneut, ob das denn heißen soll, dass die Musik an ihrem Ende angelangt ist. Kann sie nur noch zurückblicken? Doch wir denken auch an Liza Lims Mary. Auch wenn die australische Komponistin (noch) keine neuen musikalischen Räume erschlossen hat, ihr Thema ist der Wille zum Neuen. Denn, wie gesagt, ihre Maria will, dass die Verkündigung des Engels Wirklichkeit wird.
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