Ich habe wiedergelesen, was ich vor fünf Jahren über ihn schrieb. Damals spielte er Bachs Wohltemperiertes Klavier Teil I, ich hatte hinterher auch seine CD-Einspielung erworben. Wenn ich diese später manchmal hörte, dachte ich, das ist nun ein „moderner“ Pianist. Zwar will er Bachs Kontrapunktik „lebendig und ausdrucksvoll“ wiedergeben, so sagt er selbst und das ist auch klar, darüber geht er aber nicht hinaus; Gefühlsüberschwang, den die Stücke durchaus zulassen würden, erlaubt er sich nicht. Aber man muss gesehen haben, wie er spielte! Schmerz sei das Übergreifende in Bachs Komposition „und so habe ich Airmards Spiel gehört“, schrieb ich 2014. „Nicht wenige Stücke“ kämen vor, „die er spielt, als stünden sie unter Schockstarre, oder die nach geknebeltem Beginn plötzlich losstürzen, als breche ein Staudamm“. Und: „Wie man [Glenn] Gould ergriffen summen hört, so sah man gestern einem Aimard zu, der sich während seines ebenso überragenden Spiels mehr als einmal verspielte. So tief ließ er sich ein, dass er nicht alles im Griff haben konnte. Am Ende blieb er minutenlang regungslos sitzen, als sei das Publikum gar nicht vorhanden, das irgendwann dennoch zu applaudieren begann.“
Wegen dieser großen Spannung zwischen seiner persönlichen Betroffenheit, die er nicht verbirgt, und seiner kühlen Rekonstruktionskraft kann er einen immer wieder überraschen; man erwartet einen sachlichen Vortrag, der kommt natürlich auch, aber man wird an seine leidenschaftliche Teilnahme erinnert. Gestern Abend stand Beethovens Klaviersonate op. 106 in B-Dur, die „Hammerklaviersonate“, auf dem Programm. Diese Komposition schien wie für ihn geschaffen. Wiederum verspielte er sich, aber ich habe noch keinen Pianisten gehört, der einen so fesseln konnte wie er. Seine „Modernität“ äußerte sich darin, dass es vor allem darum zu gehen schien, pure Energie zu verteilen, zu kanalisieren, in die Form der vier Sonatensätze zu gießen; aber gerade so kam er Beethoven nahe. Mein Besuch im Musikinstrumentemuseum in der Pariser Cité de la musique fiel mir wieder ein: In der dort anhand von Instrumenten dargestellten Kompositionsgeschichte wird Beethoven die Rolle zugeteilt, einen musikalischen Energieschub ermöglicht zu haben. Das mag recht äußerlich klingen, und ich weiß noch, wie ich mich damals nach meinem Besuch über das Museum lustig machte. Doch es führt ins Herz von op. 106.
In meinem letzten Blogeintrag kündigte ich an, in welcher Perspektive ich die Komposition diesmal hören wollte: ob sich bewährt, was ich in einer Analyse der Neunten von Beethoven gelesen hatte, dass nämlich op. 106 als Seitenstück dieser Symphonie, an der Beethoven schon zu arbeiten begonnen hatte, betrachtet werden kann. Dann müsste in der Sonate die Problematik der Neunten zu hören sein, oder etwas Analoges: ein Beginn mit Gesten eines „Durchbruchs“, der sich als aussichtslos erweist, Anrennen gegen eine Wand, die dem abstrakt-gewaltsamen Kopf nicht nachgibt; ein alternatives Ende, in dem die Einsicht sich durchsetzt, dass anders begonnen sein muss, nicht mit Wut sondern „Freude“. Es ist tatsächlich an dem. Der extrem wilde Beginn der Sonate kann anders als so, dass man Beethovens Kritik in ihm hört, gar nicht begriffen werden. Deutlicher noch als in der Neunte ist die Ambivalenz gestaltet: Im Thema selbst, das so wild einsetzt, folgt als Kehrseite der Versuch zu mäßigen. Viel weniger noch kann er sich durchsetzen. Anders als in der Neunten geht dem wilden Gehämmer kein fahles Entstehen wie aus dem Nichts voraus. Das ist also ein zusätzlicher Gedanke, der sich Beethoven erst bei der Arbeit an der Symphonie erschließt. Ich deute ihn so, dass er die Äußerlichkeit des „Durchbruchs“-Versuchs unterstreicht: Auf keine Überlegung ist er gegründet wie später der vierte Satz („Oh Freunde, nicht diese Töne“), er ist vielmehr blind, „blindwütig“, und das heißt musikalisch übersetzt, er kommt aus der Sprachlosigkeit.
Die Hammerklaviersonate beginnt demgegenüber ganz einfach mit dem Durchbruchs-Krach. Aimard entfesselt ihn aufs Äußerste und setzt den bemerkenswerten Akzent, dass er das wilde Motiv an Stellen, über die andere Pianisten hinwegspielen, zu besonders lauten Ausrufezeichen verdichtet und sie im Verlauf fast isoliert. Wichtig auch, dass er die Zusammengehörigkeit des Scherzos, zweiten Satzes mit dem ersten durch sein Spiel betont. Es erweckt bei ihm keinen „Eindruck äußerster Leichtigkeit“, beginnt nicht „in flüchtiger, huschender Bewegung“, wie Werner Oehlmann es gehört hat, es ist vielmehr ein Nachhall der ohnmächtigen Gewalt, deren Bann noch ungebrochen ist. Aimard spielt den relativ kurzen Satz wie eine Folge wirrer Traumfetzen, die ohne erkennbares Kalkül einfach abbricht, im Morgenlicht verdämmert. Der dritte Satz, Adagio, führt in eine ganz andere Welt, und es ist wohl richtig, von einer Welt des Gebets zu sprechen. Nicht jedoch mit dem „Dankgesang eines Genesenden an die Gottheit“, wie später im Streichquartett a-moll op. 132, haben wir es zu tun, sondern mit einem Bittgebet aus oft bemerkter „Resignation“ heraus. Dennoch, wenn hier zwar die Alternative zur Blindwütigkeit des ersten Satzes noch aussteht, so ist doch der entscheidende Schritt, und darin unterscheidet sich die Anlage der Sonate von der Anlage der Neunten, mit dem bloßen Vorhandensein dieses Adagios schon getan. Erinnern wir uns: In der Neunten bringt erst der vierte Satz die Wende mit dem „Oh Freunde, nicht diese Töne“. Der langsame dritte Satz ist dort „zu zärtlich“ gewesen, wie Beethoven sagt, es erhebt sich deshalb aus ihm heraus zweimal die Fanfare, die zum Aufbruch mahnt. Der langsam dritte Satz der Klaviersonate indessen beginnt mit zwei Unisono-Tönen, A und Cis, die wie eine zu ihm führende Treppe anmuten. Niemand, der sie hört, kann ahnen, dass Beethoven sie nachträglich hinzugefügt hat, so „logisch“ fügen sie sich ein. Ich denke, sie sind das Pendant zum „Freunde, nicht diese Töne“. Hier greift zwar nicht, wie in der Neunten, der bewusste Wille in den musikalischen Ablauf ein, aber es ist doch ein Bewusstsein da, dass jetzt die Wende erfolgt, und es wird hörbar gemacht, oder wenigstens angedeutet. Aimards Spiel hat mir die Deutung nahegelegt.
Dieser langsame Satz ist also nicht „zu zärtlich“. Was ist Beethovens Gedanke? In der Neunten greift er auf Schiller zurück, er könnte es auch hier getan haben. In Schillers Ballade Die Bürgschaft rennt ein Mann um das Leben seines Freundes, den er als Pfand beim Tyrannen gelassen hat; ist er nicht rechtzeitig zurück, muss der Freund statt seiner sterben. Doch zu viele Hindernisse türmen sich vor ihm auf, er wütet – es bleibt ihm gar nichts anderes übrig, einer „raubenden Rotte“ muss er sich erwehren, erlegt „drei mit gewaltigen Streichen“ – und dann verlassen ihn, kein Wunder, die Kräfte. Ich habe, nebenbei gesagt, Schiller noch nie für einen großen Dichter gehalten, seine Sprache ist mir zu platt, eine Art Zeitungsdeutsch. Aber hier geht es um den Inhalt. „Und die Sonne versendet glühenden Brand, / Und von der unendlichen Mühe / Ermattet sinken die Knie“ – er glaubt zu verdursten. Doch seine Ohnmacht rettet ihn. „Und horch!“ – er hat aufgehört, um sich zu schlagen, es ist still geworden um ihn, so kann er horchen, muss es geradezu. „Und horch! da sprudelt es silberhell, / Ganz nahe, wie rieselndes Rauschen“, „Und sieh, aus dem Felsen, geschwätzig, schnell, / Springt murmelnd hervor ein lebendiger Quell“ –
Das hat in der Sonate die „Resignation“ des langsamen dritten Satzes bewirkt. Der vierte ist eine großangelegte Fuge, die wahrhaftig „murmelnd hervorspringt“, „geschwätzig, schnell, rieselnd“, ohne jede Kraftanstrengung, einfach so. Sie ist einfach auf einmal da und bleibt. Aber was Aimard daraus macht! Dieser vierte Satz strotzt bei ihm von derselben Kraft wie der erste, nur dass die Kraft in andere Kanäle geleitet ist, solche der Fuge eben. Und dass sie eben eine Kraft ist, die geschenkt wurde, aus der Kraftlosigkeit kommt. Man kann hören, es ist die Entsprechung zum ersten Satz, die Antwort auf ihn, die Widerlegung, die Alternative. Der Eindruck von Aimards Spiel ist ungeheuer, wirklich als ob der Saal einstürzen soll. Nun, das ist keine Fuge von der Art, wie Bach welche geschrieben hat, und das war Beethoven natürlich vollkommen bewusst. Fuga „con alcune licenze“, mit einiger Lizenz, künstlerischer Freiheit, schreibt er darüber. „Eine Fuge zu machen“, hat er sich einmal geäußert, „ist keine Kunst, ich habe deren zu Dutzenden in meiner Studienzeit gemacht. Aber die Phantasie will auch ihr Recht behaupten, und heut zu Tage muss in die althergebrachte Form ein anderes, ein wirklich poetisches Element kommen.“
Bleibt die Frage, warum Beethoven sich der „althergebrachten Form“ überhaupt bedient hat. Die Parallele zur Neunten springt ins Auge, auch dort ein vierter Satz, der dem ersten standhält und ihn gleichsam umzukehren bestrebt ist, doch die Anlage ist dort ganz anders. Nun, als Beethovens letztes Wort kann weder die Neunte noch die Hammerklaviersonate gelten, man müsste die Erörterung vielmehr bis auf die letzten Streichquartette ausdehnen, und sicher ist der zweite Satz der letzten Klaviersonate c-moll op. 111 ein Markstein - mit seinem Thema, von dem Thomas Mann sagt, es sei „zu Abenteuern und Schicksalen bestimmt, für die es in seiner idyllischen Unschuld keineswegs geboren scheint“. Hier in der Hammerklaviersonate indes will Beethoven vielleicht, so könnte man es deuten, mit der Fugen-Form die historische Autorisierung erwerben: Wenn Durchbruchs-Versuche gescheitert sind - wäre zu übersetzen -, bleibt doch die Wahrheit des Ziels und aller Anläufe zu ihm unangetastet; die vergangenen geben geschichtliche Garantie und von den zukünftigen muss doch einmal einer gelingen.
Kommentare 1
Gerne würde ich das Konzerterlebnis nachhören! Leider habe ich aber auch keine andere Einspielung Aimards von op. 106 finden können.
Ihre Suche nach intertextuellen Bezügen und wie Sie sie dann auch immer finden ist nicht meins, aber das hatten wir schon hin und wieder einmal, glaube ich.
Ich würde gerne als Kommentar den Aspekt von 'Technik und musikalisches Handeln'* hinzufügen. Sehr interessant findet man das beim Musiksoziologen Kurt Blaukopf und auch - natürlich möchte man sagen - Adorno hatte diesen Aspekt aufgegriffen (in den "Dissonanzen"). Robert Schumann hatte die zwei Fassungen von Liszts "Etudes en forme des 12 exercises" (1826 und 1837) analysiert und die Zunahme an Tonumfang und Virtuosität in den Überarbeitungen von 1837 als dem "Klavier mit den Händen abgerungen" gekennzeichnet. In Abwandlung eines Wortes von Ludwig XIV könne Liszt sagen: "Das Orchester bin ich! Der Chor bin ich! Der Dirigent bin wiederum ich!" Und tatsächlich scheint das Anwachsen des Klavierklanges mit der technischen Entwicklung der Hammerflügel in dieser Zeit zusammenzuhängen. Mehr Saitenzugkraft vertragende Eisenrahmen machten einen größeren Tonumfang und mehr Brillanz möglich und die noch einmal verbesserte Repetitionsmechanik (so, wie sie bis heute nahezu unverändert gebaut wird) ermöglichte wohl auch erst vollakkordisches Spiel in punktierten Rhythmen und einem solchen Tempo, wie es Beethoven für den Beginn von op. 106 vorgeschrieben hat.
Allein: Beethoven hatte solcherart Flügel noch nicht; konnte sie noch gar nicht haben. Die "Hammerklaviersonate" ruhte und wurde erst lange nach Beethovens Tod von Liszt wieder aufgeführt. Sie war nicht nur für die damaligen Ohren schwer anhörbar, sondern galt auch als unspielbar. Und das hatte eben auch schlicht mit den zur Verfügung stehenden Klavieren zu tun. Schumanns frühere und hochvirtuose Klavierwerke waren ebenso wie Liszts Werke dem Klavier "mit den Händen abgerungen" - auch wenn sich der arme Schumann damit selbst seine rechte Hand ruinierte. So betrachtet war Beethoven wohl noch viel mehr ein Visionär auf oder am Klavier, woran sicher auch seine Taubheit ihren Anteil hat. Vielmehr aber noch, da er im Spätwerk Sachen komponierte, die vor allem in seinem Kopf aber eben noch (!) nicht auf dem Klavier funktionierten. So in den späten bzw. letzten Klaviersonaten. Hätte Beethoven noch alle Sinne und Hände am Klavier beisammen gehabt, es wären wohl nicht solche über die Maßen der damaligen Zeit extravaganten Werke (wie opp. 106, 110 und 111) mit selbst für heutige Pianisten kaum zu meisternden Schwierigkeiten entstanden. Das betrifft neben den spieltechnischen Klippen - selbst ein Pollini hatte einst erwogen, für die unheimlichen Trillerpassagen in op. 111 mit der Studiotechnik zu tricksen - ja auch die Form und vor allem die teils unmöglichen Tempoangaben.