Und wenn er nicht kommt?

Bei diesem Beitrag handelt es sich um ein Blog aus der Freitag-Community.
Ihre Freitag-Redaktion

Unschlüssig, ohne Beziehungszauber

Nach den ersten Konzertabenden des diesjährigen musikfests berlin schält sich eine Problematik, über die nachzudenken sein wird, langsam heraus. Indem man vor allem Wolfgang Rihm ehrt, wird ein Kontrapunkt zum letztjährigen Fest gesetzt, das den strukturalistisch und existenzialistisch denkenden Pierre Boulez feierte. "Strukturalistisch und existenzialistisch" gilt zwar in der Philosophiegeschichtsschreibung als Gegensatz, vielleicht aber sogar dort ohne volles Recht. Boulez jedenfalls, 1935 geboren, als junger Mann ein Hauptexponent "serieller" Musik, ist jetzt im Alter noch dabei, aus Samuel Becketts Warten auf Godot eine Oper zu machen.

Rihms Geburtsjahr ist 1952. Man fasst die Differenz zu Boulez zunächst nur auf der formalen Ebene. Rihm ist der wichtigste und bedeutendste unter deutschen Komponisten einer jüngeren Generation, die gegen das, was sie als strukturalistischen Zwang empfanden, aufbegehrten im Namen des Subjektiven und Spontanen und der Affekte. Doch solche Zuschreibungen, auch wenn es in diesem Fall Selbstzuschreibungen sind, sagen im Grunde wenig. Welche Botschaft haben uns diese Subjekte denn zu überbringen? Haben sie um einer Botschaft willen anders komponieren müssen als Boulez oder Stockhausen? Wie hängt also ihre neue Musiksprache mit neuen Inhalten zusammen? Und diese Sprache, mag sie sich auch spontan geben, wird doch eigene Regeln haben. Was geschieht eigentlich, wenn Rihms Musik sich fortspinnt?

Könnte man ihr nur anhören, dass sie irgendeinem subjektiven Willen entsprungen ist, wäre sie ganz uninteressant. Die Einbeziehung noch so raffinierter Kompositionstechniken würde sie nicht retten. Dass weit mehr in ihr liegt, hört man aber sofort. Alle Musikfreunde werden ja bestätigen: Wenn man ein Musikstück zum ersten Mal hört, begreift man noch fast gar nichts, weiß aber augenblicklich, ob es einen anspricht - trifft, berührt - oder nicht, daher ob man es häufiger hören will, um auch das Begreifen noch nachzuholen. Rihm würde ich schon gern begreifen.

Sein Stück Verwandlung 3, das am Samstag das Eröffnungskonzert einleitete, hat etwas von einer Filmmusik. Es wirkt überwiegend tonal, fast könnte man eine Komposition der 1920er Jahre darin vermuten. Auf allerlei alte und neue Musik wird angespielt, deshalb wohl hat man Verwandlung 3 an den Anfang des Festspielprogramms gesetzt. Die Leichtverständlichkeit ist ein Anliegen, das sich beim "späten" Rihm noch verstärkt hat - das Stück wurde 2007/08 komponiert -, doch schon als er in den 1970er Jahren an die Öffentlichkeit trat, wollte er die "bürgerlichen Konzertsäle zurückerobern". Wahrscheinlich hört nun jeder seine eigene "Verwandlung" aus dem Stück besonders heraus, wie bei einem Rohrschachtest. Der Test fällt mir ein, weil man Rihm einen "tachistischen Neo-Expressionisten" genannt hat. (Tachismus ist eine Kunstrichtung nach dem Zweiten Weltkrieg, für die etwa der Maler Wols steht.) Mir war eine Stelle interessant, an der Geräuschvolles abbricht, nicht weil neue Taten folgen sollen, sondern um den stillen melancholischen Hintergrund hervortreten zu lassen: entfernt vergleichbar dem Ende von "Decoration Day" aus der Symphonie Holidays von Charles Ives.

Dass danach "Programm-Musik" von Liszt und Berlioz erklang - von Berlioz die Symphonie fantastique, von Liszt das wenig reguläre, offenbar einer poetischen Idee verpflichtete zweite Klavierkonzert -, unterstrich den Eindruck, hier werde voluntaristische Musik geboten und Rihm passe dazu. Nach Liszt aber gefragt, antwortet Rihm (Gespräch mit Rainer Peters, im musikfest Journal): "Liszt ist wirklich unnachahmlich, wie er sich auf 'Leere' einlässt, das absolute Gegenbild zum Wagner'schen Beziehungszauber... Seine Vorliebe für die 'leeren' Intervalle, das Kahle oft, [...] seine plastisch-räumliche Auffassung des Tonraums, die wie vegetabile Vektoren darin ortlos schwebenden Melodieformen, deren 'Unschlüssigkeit', also die typisch offengehaltenen Richtungen der melodischen Ansätze -" was sind das, wenn nicht "auf verunsichernde Weise 'ziellose' Formen". Voluntarismus? Ohne Zweifel. Man muss es sogar hervorheben: Liszt "versteht es, das Erklingende ohne thematische Rückbindung absolut zu setzen". Inzwischen aber erscheint der Voluntarismus nicht mehr als Sprengung der Form - höchstens der alten Formen, die für den neuen Inhalt "Ziellosigkeit" nicht tragfähig wären -, sondern selber als neue Form. Das Subjekt wird als wollendes vorgeführt, aber warum? Weil der Wille nichts ausrichtet.

Von hier aus spannt sich der Bogen zu den bevorstehenden Höhepunkten des musikfests. Mit Nono, dem Älteren aus der Generation serieller Komponisten, war Rihm befreundet, doch an der politischen Zielstrebigkeit des Mitglieds der Kommunistischen Partei Italiens hatte er nicht teil: "Ich habe diese Motiv-Sphäre 'utopischer Sozialismus' bei Nono immer als etwas mir und meiner Erlebniswelt völlig Entgegengesetztes empfunden. Ein Engagement, das die individuelle Sicht in ein kollektives Empfinden weiterwünscht, ist mir nicht vorstellbar - und wenn doch: nicht realisierbar." Nono habe ihm das nicht übel genommen, auch weil er gewusst habe, dass er, Rihm, sich "durchaus zu engagieren verstand", "sicher überall dort, wo Selbstermächtigung über das Individuelle triumphieren zu dürfen glaubt".

Der Witz ist nun aber, dass Nono seinerseits in seiner letzten Schaffensphase vom "kollektiven Empfinden" zur "individuellen Sicht" zurückging, indem er nicht mehr, wie zuvor, eine utopisch antwortende und die Gegenwart zielbewusst anklagende Musik schrieb, sondern eine unsicher fragende. Das große Oratorium Prometeo aus den Jahren 1981-85, zu hören am 16. und 17. September, legt davon Zeugnis ab. Dass Nonos Wende auf politische Zeitläufte reagierte, ist bekannt und wird zu erörtern sein. Hatte er sein Ziel verloren? Während Liszts Musik von vornherein keins vorstellt, außer in religiösen Kompositionen? Ich hoffe morgen eine erste Näherung zum Prometeo aufschreiben zu können.

Dass Gustav Mahlers gigantische Achte, die "Symphonie der Tausend" aus den Jahren 1906/07, Ziellosigkeit zum Thema hat, ist durch das böse Wort den Komponisten-Kollegen Hans Pfitzner bekannt. Der fragte angesichts der zuerst gesungenen Worte, "Veni creator spiritus", Komm Schöpfer Heiliger Geist, zurück: "Und wenn er nun aber nicht kommt?" Bestimmt stellte sich Mahler die Frage selbst. Die Achte ist am 15., 17. und 18. September zu hören.

Tröstlich, beunruhigend

Ein paar musikalische Eindrücke mögen noch folgen. Ungleich mehr als die Verwandlung 3 hat mich Rihms ET LUX beeindruckt, die etwa einstündige Komposition "für Vokalensemble und Streichquartett" aus dem Jahr 2009, die vorigen Freitag in der Gethsemanekirche gegeben wurde. Es ist die Vertonung von Bruchstücken der römischen Requiemliturgie, in der vor allem die Worte "et lux perpetua luceat" hervortreten, "Und das ewige Licht leuchte". Denen nämlich soll es leuchten, die sich Befreiung vom ewigen Tod wünschen: libera me de morte aeterna. Streng genommen dürfte übrigens "perpetua" nicht wie "aeterna" übersetzt werden, beide mit "ewig", wie es im Programmheft geschieht und auch sonst gängig ist. Das ist doch nicht dasselbe, wenn das Licht perpetuieren soll, weil es so viele gibt, die "jenen Tag fürchten", der Tod aber, um ewig zu sein, keine Dauer, sondern nur einen Augenblick braucht.

Rihms Musik macht den ewigen Augenblick offenbar, indem er ihn verbirgt. Ein überwiegend sehr langsames, sehr ruhiges Tonfeld wird entfaltet, das sich auf der Oberfläche wie Renaissancemusik anhört, im Einzelnen aber kaum hörbar dissonant und daher im Ganzen äußerst gespannt ist. Zudem brechen aus der kontinuierlichen Ruhe expressive Spitzen hervor, die zum Genre nicht passen wollen, wie Rihm denn auch gesagt hat, es würden "die sowohl tröstlichen als auch tief beunruhigenden Schichten dieser Worte" Et lux perpetua luceat "vielleicht spürbar". Das Vokalensemble hat immer die Führung, das Streichquartett setzt nur Akzente und erweitert die Aura.

In Hans Zenders Logos Fragmente am Sonntag Abend einzudringen, war nicht leicht. Es waren auch nicht viele gekommen, den Versuch zu machen. Wären alle zusammengerückt, hätten sie wohl ungefähr in den Block A der Philharmonie gepasst. Die Texte geben freilich Orientierung. Zender stellt Verse des Johannesevangeliums, einmal auch der Apostelgeschichte (wo es um Pfingsten geht, die Ausgießung des heiligen Geistes) mit solchen der hebräischen Spruchsammlung "Pirqe Abot", des apokryphen Thomas-Evangeliums und des Gnostikers Valentinos zusammen. Die Textauswahl ist so, dass Abweichungen von der Botschaft des Neuen Testaments nicht hervortreten - genauer des Johannes, der seinerseits von gnostischen Tendenzen nicht frei ist -, dafür aber eine größere Vielfalt der Aussageweisen sichtbar wird. Und das gerade ist Zenders Absicht. Er will eine gewisse Unentschiedenheit des Christentums im 1. Jahrhundert zeigen, oder besser wohl gesagt, er will zeigen, dass der "Geist", wo er wirklich noch weht, sich gerade als Unsicherheit des Denkens kenntlich machen würde.

Einmal freilich kommt Ungewohntes aus dem Thomas-Evangelium: wenn wir hören, dass "der Mensch einem klugen Fischer [gleicht], der sein Netz ins Meer wirft. Und er zog es aus dem Meer, voll mit kleinen Fischen. Mitten unter ihnen fand er einen großen, guten Fisch, der kluge Fischer. Da warf er alle kleinen Fische zurück ins Meer und wählte, ganz ohne zu zögern, allein den großen Fisch. - Wer Ohren hat zu hören, der höre!" Ich weiß nicht, wie diese Szene im ersten Triptychon von Max Beckmann aus dem Jahr 1932 dargestellt sein kann, obwohl das Thomas-Evangelium erst 1945 gefunden wurde.

Die Musik "für 32 Singstimmen und 4 Orchestergruppen" erschließt sich beim ersten Hören nicht. Dass von den Instrumentalisten und sogar von den Sängern Zwölfteltöne verwendet wurden, ist bei mir nicht angekommen, dafür ist mein Ohr nicht geschult. Was man hört und vor allem sieht, ist die szenische Konstellation: Die Sänger und Sängerinnen sind in die Orchestergruppen integriert und singen aus ihnen heraus; ähnlich wie in Rihms Vokalmusik mit Streichquartett hat man den Eindruck eines einzigen Klangkörpers, in dem nicht die Vokalisten als weitere Orchesterinstrumente erscheinen, sondern umgekehrt der Orchesterklang aus dem Vokalklang herauswächst und sein erweitertes Organ ist. Wichtig ist das aus einem Grund, von dem ich mich frage, ob er Zender überhaupt bewusst ist. Als Schlagzeug nämlich treten in dieser Komposition die langen Hölzer, hängenden Xylophone auf - die Pauke ist kaum einmal zu hören -, was der Musik vielleicht eine zusätzliche asiatische Note geben soll, tatsächlich aber Gelegenheit zu resonanzlosen, hohl aufprallenden Schlägen bietet. Diese widersprechen der Bewegtheit des Orchesters mit Sängern total. Auch sie zwar ist über weite Strecken statisch gebunden, im Vergleich aber mit den Hölzern, die schon visuell wie eine große endgültige Wand anmuten, erscheint sie als unendlicher Fluss, der nun immer wieder unsanft gestoppt wird.

Franz Liszts schon erwähntes zweites Klavierkonzert ist wohl keine Musik, die man gehört haben muss. Der Inhalt scheint zu sein, dass ein nicht selten düster gestimmter Komponist in seiner Gefährtin den liebevollen Engel findet, der ihn auf bessere und jedenfalls sanftere Gedanken bringt. Wenn man es vielleicht nicht hören muss, sollte man es doch einmal gesehen haben: wie da dem Pianisten Jean-Yves Thibaudet eine Solocellistin entgegentritt, das heißt ihm gegenübersitzt, Hai-Ye Ni, wie sie aus dem Orchester sich herauslöst, eigens um ihn zu besänftigen. Die Überreichung der Blumensträuße danach war sozusagen noch Bestandteil der Komposition: Neben Charles Dutoit, der das Philadephia Orchestra hervorragend und sehr pünktlich leitete - der Abend hatte 20 Uhr auf die Minute begonnen -, erhielt auch der Pianist einen und übergab ihn flugs der Cellistin. Man sah sie förmlich vor sich, den Herrn Liszt und die Fürstin Sayn-Wittgenstein.

Musikalisch ist der Anfang des Klavierkonzerts interessant. Nach einer kleinen lyrischen Einleitung gelangt der Pianist zu einer Reihe sehr tiefer Tonschläge, die sich, weil sie noch in der Kürze rasante Bögen beschreiben, wie Ritsch! Ratsch! Ritsch! Ratsch! anhören. Diese Bögen nun werden zuerst von den Kontrabässen aufgenommen, ganz tief und sehr laut, bevor sich nach und nach das übrige Orchester einschaltet. Sie gerade sind es, die nach Besänftigung durch die Fürstin schreien, die ja herausgehört haben wird, dass ähnliche Töne auch am Beginn von Liszts Totentanz erklingen. Die Wirkung der dunklen Reihe ist gewaltig, besonders weil Dutoit sie nicht mehr als Begleitfigur behandelt wie noch in seiner CD-Aufnahme des Klavierkonzerts, sondern zur Hauptsache macht. Das ist schon ein wenig originell.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

Was ist Ihre Meinung?
Diskutieren Sie mit.

Kommentare einblenden