Verklärte Nacht

Musikfest 2015 Arnold Schönbergs Musik will neu sein, ohne das Alte zu verwerfen

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Daniel Barenboim und die Staatskapelle Berlin haben das Musikfest eröffnet
Daniel Barenboim und die Staatskapelle Berlin haben das Musikfest eröffnet

Foto: Kai Bienert/MUTESOUVENIR

Das diesjährige Berliner Musikfest hat zwei klare Schwerpunkte, Arnold Schönberg (1874-1951, 15 Konzerte) und den dänischen Komponisten Carl Nielsen (1865-1931, sechs Konzerte), der hierzulande noch recht unbekannt ist. Nielsens 150. Geburtstag gibt Anlass, ihn vorzustellen. Man wird hierbei auch das Royal Danish Orchestra kennenlernen, es ist Europas ältestes. Mit beiden Komponisten werden andere kombiniert, so naheliegenderweise Gustav Mahler mit Schönberg. Ich freue mich, über ihn und Nielsen schreiben zu können, werde aber auch einen anderen Höhepunkt nicht verpassen, die halb konzertante, halb theatralische Aufführung von „Michaels Reise um die Erde“, das ist der zweite Akt der Oper Donnerstag aus „Licht“ von Karlheinz Stockhausen. Daneben sind Beethoven, Schubert und Wagner, Berg und Webern, Fauré und Debussy, Rihm, Xenakis und Ferneyhough und noch andere zu hören.

Das gestrige Eröffnungskonzert stand im Zeichen eines „Bekenntnisses zur Musik Arnold Schönbergs“, wie es im Festivalprogramm heißt. In der Tat, wann ist sie schon einmal so exponiert worden? Daniel Barenboim mit seinem Opernorchester, der Staatskapelle Berlin, dirigierte die drei Inauguralwerke des Komponisten, der die „Methode des Komponierens mit zwölf nur aufeinander bezogenen Tönen“ erfunden hat: Verklärte Nacht für Streichorchester op. 4 (1899/1917), sein erstes von ihm selbst als vollgültig anerkanntes Orchesterwerk, das zwar die Dur-moll-Tonalität in Grenzbereiche treibt, sie aber nirgends verlässt; die Fünf Orchesterstücke op. 16 (1909), das erste in freier Atonalität geschriebene Orchesterwerk; und die Variationen für Orchester op. 31 (1926-28) als ersten orchestrale Anwendung jener von ihm erfundenen Methode. Die drei Werke sind so reichhaltig, dass ich mich hüten muss, hier ein ganzes Buch über sie zu schreiben, zumal man sich eine glanzvollere Interpretation als die von Barenboim kaum vorstellen kann.

Verklärte Nacht ist eine Tondichtung, der ein Gedicht Richard Dehmels (1863-1920) zugrunde liegt. Wie Martin Wilkening im Programmheft schreibt, nimmt sie nicht nur, mit dem Typus Tondichtung, auf Richard Strauss Bezug, sondern auch mit der Musiksprache auf Richard Wagner und mit der Satzweise auf Johannes Brahms. Alle drei Bezugnahmen verändern aber das, worauf sie rekurrieren, so sehr, dass etwas ganz Neues entsteht. Der erste Eindruck ist eine Überkomplexität, die selbst geübten Musikhörern das Zuhören schwer macht, und zwar äußert sie sich interessanterweise darin – ich kann da nur von mir sprechen, glaube aber kein Einzelfall zu sein -, dass sie sich zuerst emotional überfordert fühlen müssen. Schon als ich die Musik zum ersten Mal hörte, was lange her ist, glaubte ich sie musikalisch zu verstehen, nur war ihre Ziel- und Uferlosigkeit und, wie ich es empfand, pathetische Weinerlichkeit kaum zu ertragen. Bezeichnend war, dass ich sogar Dehmels eigentlich glasklares Gedicht falsch las. Da gesteht eine Frau, so dachte ich, ihrem Mann, dass sie mit einem anderen Mann geschlafen hat und von ihm schwanger ist, und ihr Mann verzeiht es mit einem schon im Gedicht an Kitsch grenzenden pathetischen Gehabe. Das stimmt alles nicht. Ich hatte offenbar nur einen flüchtigen Blick auf das Gedicht geworfen und mochte mich nicht hineinvertiefen, wohl weil es mich zu sehr an mein eigenes Leben erinnert hätte.

Dehmel gibt in Wahrheit ein Gespräch wieder, in dem zunächst eine Frau erzählt, dass sie schon nicht mehr daran geglaubt hatte, den zu ihr passenden Mann zu finden; sie wollte aber Mutter sein und sorgte dafür, dass sie es wurde. Das war getan, als sie den Richtigen doch noch fand. Dem offenbart sie es nun und der reagiert mit den Worten: „Das Kind, das du empfangen hast, / sei deiner Seele keine Last, / oh sieh, wie klar das Weltall schimmert!“ Sie spazieren ja durch die Nacht. Und weiter: „Du wirst es mir, von mir gebären; / du hast den Glanz in mich gebracht, / du hast mich selbst zum Kind gemacht.“ So pathetisch würde man heute allerdings nicht mehr sprechen und auch die Frau nicht noch zur Mutter ihres Richtigen machen, wie es in der letzten Zeile geschieht. Damals sprachen Dichter aber so, und was Dehmel pathetisch sagt, ist nicht etwa funktionslos. Im „schimmernden Weltall“ darf wohl eine Anspielung auf das Schlusswort zur Kritik der praktischen Vernunft gesehen werden, wo Immanuel Kant sagt: Zwei Dinge erfüllen das Gemüt mit immer neuer und zunehmender Bewunderung und Ehrfurcht, je öfter und anhaltender sich das Nachdenken damit beschäftigt: der bestirnte Himmel über mir und das moralische Gesetz in mir. Beide darf ich nicht als in Dunkelheit verhüllt oder im Überschwänglichen, außer meinem Gesichtskreise suchen und bloß vermuten; ich sehe sie vor mir und verknüpfe sie unmittelbar mit dem Bewusstsein meiner Existenz.“

Wenn ein Komponist wie Schönberg so eine Handlung aufgreift, bekommt sie einen doppelten Boden. Man kann darin, dass ein früher gezeugtes Kind akzeptiert wird, die Metapher auf eine neue Kunst sehen, die zwar neu sein will, aber ohne das Alte zu verwerfen. Mit Schönberg beginnt tatsächlich eine Entwicklung, in der sich das nicht mehr von selbst versteht. Ein halbes Jahrhundert später wird Pierre Boulez erklären, dass s e i n e neue Musik, die auf der Schönbergschen aufbaut, sich von jeder Reminiszenz an die alte befreien wolle, weil diese sich durch die Kontexte, in denen sie stand, disqualifiziert habe. Und tatsächlich kritisiert er Schönberg dafür, dass noch in dessen reifen, nach der Zwölfton-Methode geschriebenen Werken die alte Musik allzu tiefe Spuren hinterlassen habe.

Umgekehrt ist aber schon Verklärte Musik, dieses noch gänzlich tonale Werk, in dem man, wie gesagt, Wagner und Brahms wiedererkennt und in der Anlage als Tondichtung auch Strauss, so radikal neuartig, dass Theodor W. Adorno sagen kann, „dass eigentlich die entscheidenden Neuerungen Schönbergs allesamt in seinen frühen Werken, also den Werken bis ungefähr op. 10, eigentlich bereits enthalten sind“, was er dann sehr ausführlich am op. 4 demonstriert, „und dass man, wenn man diese Werke richtig versteht, die späteren Werke auch gleichsam von selbst verstehen wird, dass die späteren Werke dann keine Schwierigkeiten mehr machen.“ Boulez und andere junge „serielle“ Komponisten hören ihm zu, der sie für Schönberg einnehmen will, was ihm freilich nicht gelingt. (Kranichsteiner Vorlesungen, Berlin 2014, S. 11) Es sind diese „Neuerungen“, die zum richtigen Höreindruck des ungeheuer Komplexen führen wie auch zu der falschen Komplexitätsreduktion des Anfängers, man höre einer Art Kitsch zu. Und es ist diese Komplexität, die Schönberg mit der späteren Zwölfton-Technik gleichsam zum Hauptthema macht und dabei auch bändigt.

Barenboim hat das bei aller emotionalen Wucht so klar dirigiert, dass man gut verfolgen konnte, wie sich Wagner im Stück spiegelt und worin Schönberg auf Brahms zurückgreift. Von Wagners Tristan-Motiv, den ersten Takten von Tristan und Isolde, sagt man bekanntlich, das sei der Beginn der Auflösung des Tonalen. Tatsächlich schwebt es nur noch, ein unerfülltes Sehnen artikulierend, chromatisch in seinem Tonhöhenbereich, ohne noch auf einen Grundton hinauszulaufen. Es ist aus einer fallenden und einer steigenden Linie zusammengesetzt, die gleichzeitig erklingen. Schönberg Verklärte Nacht legt das auseinander. Dies Stück steigert sich, nach einer die Nachtruhe evozierenden Einleitung, zunächst in eine haltlos nach oben strebende, dramatisch zerrissene Melodie der Frau hinein. Dann antwortet ihr begütigend die fallende Melodie des Mannes. In die Antwort geht, zunehmend zur Ruhe kommend, das Steigen der vorausgegangen Melodie ein.

Es ist nicht mehr derselbe Gestus wie bei Wagner, denn einen Grundton gibt es zwar weiterhin nicht, dafür aber, in der Melodie des Mannes, so sehr auch sie nur schwebt, eine Art Grundtönigkeit, die auf Grundtöne verzichten kann. Sie muss darauf verzichten, das ist der metaphysische Einsatz dieser Musik. Denn sie will keinen prästabilierten Grund und Boden mehr unter sich suggerieren und phantasieren. Den Grund kann man nur noch selbst zu legen versuchen, und er wird nicht immer nachhaltig sein. Dass er von vornherein prekär ist, hört man ihm an, indem es sich nicht um einen Punkt handelt, einen einzelnen Ton mit seinen Oktav-Wiederholungen, sondern selbst nur um eine schwebende Linie, wenn auch besonderer Art.

Dass hier eine Frau zerrissen ist und ein Mann als ihr Richtiger begütigend einschreitet, wird man sich heute auch nicht mehr so gern anhören, literarisch nicht und dann auch nicht musikalisch. Aber abgesehen davon, dass diese Thematik zeitgebunden ist und wir selber, wenn wir gut beraten sind, das früher gezeugte Kind nicht verwerfen werden, nur weil wir Spätergeborene sind, mag dieses Mann-Frau-Verhältnis, von Schönberg verwendet, nichts weiter als eine Metapher sein. Man müsste wissen, wie er Dehmels Gedicht gelesen hat und was ihm dabei eingefallen ist: „Zwei Menschen“, beginnt es, „gehn durch kahlen, kalten Hain; / der Mond läuft mit, sie schaun hinein. / Der Mond läuft über hohe Eichen, / kein Wölkchen trübt das Himmelslicht, / in das die schwarzen Zacken reichen. Die Stimme eines Weibes spricht“, und sie spricht davon, dass sie „nicht mehr an ein Glück [glaubte]“, aber doch „ein schwer Verlangen nach Lebensinhalt [hatte]“. Was stellt man sich unter schwarzen Zacken vor, die in ein Himmelslicht reichen? Im Zu- oder Abnehmen des Mondes geht das aggressive Bild nicht auf! Schönberg war ein düster gestimmter Mensch. Es ist denkbar, dass Verklärte Nacht darstellt, wie das „Verlangen nach Lebensinhalt“, sei’s einer Frau oder eines Mannes – er selbst ist ja ein Mann - nicht anders begütigt werden kann als durch den Tod.

Der Rückgriff auf Brahms liegt in der Technik der Motivsetzung und –verarbeitung und darin, dass Schönberg in der Weise der „entwickelnden Variation“, den Begriff hat er selbst in einem Aufsatz über Brahms geprägt, musikalische Blöcke aufeinander folgen läßt. Gerade auch das hat Barenboim sehr klar zu Gehör gebracht. Ich komme vielleicht morgen dazu, auch zu den beiden anderen Schönberg-Stücken dieses beeindruckenden Konzertabends etwas zu sagen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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