Es muss vielleicht einmal in Erinnerung gerufen werden, dass Staatsmänner, über deren Mithilfe an Strategien der kapitalistischen Ausbeutung man sich innenpolitisch ärgert, dennoch als Außenpolitiker Friedensfreunde sein können. Man denke nur an Gustav Stresemann. Will sagen: Ein Friedenskurs der Regierung Schröder ist nicht etwa deshalb undenkbar, weil sie gerade die Arbeitslosenhilfe auf Sozialhilfeniveau herunterbringt. Möglich wäre es freilich, dass ihr ein friedenspolitisch indifferenter bis aggressiver Kurs durch die kapitalistische Interessenlage Deutschlands aufgezwungen wird. Doch auch das versteht sich nicht von selbst, sondern wäre erst zu prüfen. Nehmen wir diese Prüfung in Angriff. Der außenpolitische Teil des Koalitionsvertrags, den die im Amt bestätigte rot-grüne Regierung am 16. Oktober unterzeichnet hat, zeigt recht deutlich die Bedingungen des Problems.
Dass er "Außen- und Sicherheitspolitik", den "Europäischen Einigungsprozess" und die "Globale Gerechtigkeit und Entwicklungszusammenarbeit" zu einer einzigen Erörterung unter dem Titel "Gerechte Globalisierung - Deutschland in Europa und der Welt" integriert, ist begrüßenswert und hätte sich rationalitätsfördernd auswirken können. Umso mehr fällt auf, wie viel an der Integration noch fehlt. Wenn wir uns dem Dokument mit der Frage nähern, wie es sich die Rolle Deutschlands nach dem "11. September" vorstellt, so begegnen wir einer eigentümlichen Zersplitterung der Gesichtspunkte. Je einzeln genommen sind sie meistens nicht problematisch. Das Bekenntnis zur Verrechtlichung der internationalen Beziehungen, zu den Vereinten Nationen steht am Anfang. Gleich wird auch betont, dass ein "Sicherheitsbegriff" zugrundeliegt, der "entwicklungspolitische Aspekte berücksichtigt". Es geht weiter mit einem Bekenntnis zur "freundschaftlichen Beziehung" Deutschlands und Europas zu den USA. All das verdient keine Kritik. Wenn es dann aber heißt, diese Beziehung beruhe "auf gemeinsamen Werten und gemeinsamen Interessen", ist das Problem angedeutet, zu dessen Lösung deutsche Friedenspolitik einen Beitrag leisten müsste. Denn die "gemeinsamen Werte" werden zur Zeit von der Bush-Administration in Frage gestellt. Das Neue Rom, das in ihrem Umfeld Kontur gewinnt, ist nicht mehr das Rom der Senatoren und Plebs-Vertreter, auf das sich die Väter der amerikanischen Verfassung einst beriefen; es ist das Rom der Caesaren, die eine ganze Welt militärisch erpressten. Und zu den "gemeinsamen Interessen" zählt die Sicherung des Ölnachschubs. Präsident Bush möchte ihn durch Installierung eines amerikanischen Militärgouverneurs im Irak, der zugleich Saudi-Arabien und Iran im Auge hat, unter bessere Kontrolle bringen.
Wie kann die deutsche Regierung einer solchen Politik entgegentreten, ohne die "freundschaftlichen Beziehungen" zu gefährden? Natürlich wird man nicht von einem Koalitionsvertrag erwarten, dass er die Frage ausdrücklich aufwirft und beantwortet. Darüber jedoch, wie die Ingredienzen einer Antwort über das Dokument verstreut sind, kann man sich Gedanken machen. Es gelte weiterhin, lesen wir, dass Deutschland im Kampf gegen den Terrorismus an der Seite der USA stehe. Aber "die Wahrung rechtsstaatlicher Standards muss gewährleistet sein", und die Bundesregierung "hat eigene Initiativen zu einer weltweiten Strategie der globalen, strukturellen Prävention gegen die terroristische Herausforderung ergriffen". Die Lösung des Nahostkonflikts wird als entscheidend angesehen. Hier scheint sich die Zusammenschau von Außen-, Sicherheits- und Entwicklungspolitik zu bewähren. Später im Abschnitt "Globale Gerechtigkeit und Entwicklungszusammenarbeit" wird ein Ziel propagiert: Es besteht darin, "die Risiken von Instabilität, sozialen Spannungen und der Verschwendung natürlicher Ressourcen" - also doch nicht zuletzt des Öls - "zu mindern". Es heißt sogar: "Die Bundesregierung wird bei der Ausgestaltung einer nachhaltigen Energiezukunft weltweit eine Führungsrolle einnehmen." Ein Weg zum Ziel zeichnet sich ab: "Deutschland wird im Jahr 2003 zu einer internationalen Konferenz für Erneuerbare Energien einladen und an der Schaffung einer Internationalen Agentur für Erneuerbare Energien arbeiten."
Man fragt sich, ob den Autoren bewusst ist, dass sie hier über die Zukunft des Irak und Saudi-Arabiens schreiben. Die USA wollen den Irak besetzen, um niedrige Preise für die natürliche Ressource Öl zu erzwingen, das heißt um diese zu "verschwenden". Obwohl sich der Koalitionsvertrag hiergegen ausspricht, zeugt nicht die leiseste Andeutung davon, dass die Koalitionäre gewillt sein könnten, das Verschwendungs-Thema in den Streit um die "Achse des Bösen" einzubringen. Nein, die "Solidarität" mit den USA scheint auf einem anderen Blatt zu stehen. Mehr noch. Es gibt einen Abschnitt über die Zukunft der Bundeswehr, in dem die Regierung verspricht, ihre "schnell verfügbaren Einsatzkräfte" zu modernisieren, um "die europäischen integrierten Fähigkeiten der NATO und in der EU" zu "stärken". Weiß sie eigentlich, dass sie sich hier der Formulierung einer Alternative nähert? Denn es gibt Meinungsmacher, die empfehlen, gegen die Weltpolitik der USA das europäische Militärpotenzial zu stärken. Energiekonferenzen und ähnliches könnten, ja müssten als die andere und bessere Option aufgefasst werden.
Vor ein paar Wochen vertrat Torsten Wöhlert im Freitag (Ausgabe 40 vom 27.9.2002) die Ansicht, die derzeitige amerikanische Irak-Politik gehe von der Einsicht in die Endlichkeit der Ölvorräte aus; ihr Ziel sei die hegemoniale Absicherung des Ausstiegs aus der Ölwirtschaft. Ich bezweifle das. Denn die Fäden der US-Administration zu US-amerikanischen Ölkonzernen sind bekannt. Dass Konzerne Politiker nach vorn schieben, weil sie einsehen, dass ihre eigene Abschaffung vorbereitet werden muss, wäre recht ungewöhnlich. Aber Wöhlert hat doch genau den Punkt getroffen, der nach Politisierung schreit. Die deutsche Regierung, die auch Ölinteressen zu repräsentieren hat, scheint nicht speziell von Ölkonzernen abhängig zu sein. Anders als die US-Administration spricht sie ausdrücklich von der Endlichkeit der Ressourcen. Warum legt sie nicht ihre "weltweite Führungsrolle" in Energiefragen so an, dass sie die Gesellschaft der USA in einen öffentlichen Diskurs - auf der Basis der "gemeinsamen Werte" - über die Zukunft der Energie verwickelt? Gerhard Schröder sollte bei seinen nächsten Gespräch mit der New York Times die Frage stellen, ob Präsident Bush nicht besser beraten wäre, die Weltordnung nach dem letzten Öl vorzubereiten als vorher noch ein paar Ölkriege zu führen. Ein solcher unverschämt offener, ansonsten natürlich nett und solidarisch geführter Diskurs würde bestimmt mehr Wirkung entfalten als der zum Scheitern verurteilte Versuch, den rüstungspolitischen Vorsprung der USA aufzuholen.
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