Verwundbare Gesellschaft

GAU Japan ist von einer furchtbaren Katastrophe getroffen worden. Aber vielleicht hat das Land und seine Gesellschaft mehr Kraft zum Umdenken als seine westlichen Partner

Vor Jahren redete Rudolf Bahro über die Natur, als sei sie ein Subjekt: Sie lässt sich das nicht gefallen, was die Menschen ihr antun, sie wird zurückschlagen. Tatsächlich lesen sich manche Ereignisse der letzten Zeit, als sei der unerklärte Krieg, den die zeitgenössische Menschheit gegen die Natur führt, in ein entscheidendes Stadium getreten. Vor einem Jahr die Ölkatastrophe im Golf von Mexiko, jetzt die drohende Kernschmelze im japanischen AKW Fukushima 1: Das Gemeinsame ist, dass Technik trotz hohen Risikos eingesetzt wird, ungefähr als wagten sich bewaffnete Stoßtrupps tief ins feindliche Land hinein, und es dann zu verlustreichen Zusammenstößen kommt.

Die Risikobereitschaft in Japan war so viel höher als die im Golf von Mexiko, dass man sie kaum für möglich halten möchte. Es gibt dort häufig Erdbeben, die dort lebenden Menschen wissen es. Sie wissen auch, dass in mittelgroßen Abständen sehr schwere Erdbeben geschehen. Das letzte war vor 90 Jahren (großes Kanto-Erdbeben, 143.000 Tote). Japan liegt eben genau da, wo sich Kontinentalplatten gegeneinander verschieben. Das wusste man, als man dort AKWs baute und sie "erdbebensicher" nannte. Es fällt schwer, zu glauben, dass die Lenker des Landes darauf wirklich vertraut haben. Bestimmt haben sie es gehofft – eben wie man in einem Krieg hofft, dem Feind Paroli bieten zu können. Wenn dann doch eine Schlacht verloren wird, ist das Entsetzen und auch die Überraschung groß, unbewusst aber hat man es nicht anders erwartet.

Reich und arm lassen sich ökologisch nicht trennen

Dem japanischen Tsunami ist der indonesische 2004 vorausgegangen. Doch damals wurden arme Landstriche heimgesucht, heute ist ein führender Industriestaat betroffen. Er kann sich genauso schlecht wehren. Und ausgerechnet die technische Hochrüstung, über die er verfügt, macht ihn noch viel verwundbarer. Nach den letzten Katastrophen müssen wir einsehen, dass die reichen Länder der Erde nicht weniger gefährdet sind als die armen. Als ich die Bilder der großen Flut- und Trümmerwelle sah, die die japanischen Äcker überrollte, kam mir "Bangla Desh" in den Sinn – die immer wieder beschworene Gefahr, dass die Klimakatastrophe den Meeresspiegel ansteigen lässt und dann die Deiche brechen und ein armes Land wie dieses keine Chance hat, sich irgendwie zu schützen. Aber genau die Bilder vom Deichbruch, die man dort in einiger Zukunft zu sehen erwartet, hat man jetzt schon in Japan gesehen. Reich und arm lassen sich ökologisch nicht trennen: Der Süden der Erde leidet zwar mehr an den Wunden der Natur als der Norden, der sie geschlagen hat, doch die Natur kann auch selbst verwunden, und gerade ein (atomarer) Industriekreislauf ist extrem verwundbar.

Bessere Voraussetzungen für ein Umdenken?

Was ist das für eine Produktionsweise? Will man behaupten, eine Produktionsweise sei unmöglich, die Frieden mit der Natur hielte, statt sie so rücksichtslos zu überfordern? Es ist doch genau bekannt, wie viel CO2-Ausstoß die Erde gerade noch vertrüge oder wo es Erdbeben gibt oder wo der Druck unter dem Meeresspiegel zerreißend groß wird. Da werden Grenzen sichtbar, an die man sich einfach halten könnte. Industrie ja, aber nur bis zu den Grenzen. So leicht wäre friedliche Koexistenz. Vielleicht wird jetzt Japan eine Wende einleiten? Die Voraussetzungen für ein Umdenken sind möglicherweise im Land des Kyoto-Vertrags besser als in Europa und den USA. Denn erstens hat Japan zwar viele Früchte der westlichen Mentalität übernommen, aber seine eigene Kultur deshalb nicht aufgegeben; es hat vielleicht mehr Kräfte aufbewahrt als das Abendland, giftige Früchte auch wieder wegzuwerfen. Japan ist immer wieder als lernendes Land dargestellt worden. So hat es die westliche Produktionsweise gelernt, das heißt fertig übernommen. Vielleicht ist die Beziehung, die es zu ihr unterhält, äußerlich genug geblieben, dass sie auch wieder gelöst oder stark verändert werden kann? Wird diesmal die Welt von Japan lernen – wie man eine Niederlage einräumt, ihre Bedeutung erfaßt und entschieden auf sie reagiert? Zweitens hat dieses Land schon andere Atomkatastrophen erlebt, Hiroshima und Nagasaki. Nirgends in der Welt weiß man besser, was radioaktive Verseuchung ist. Damals gab es ein Umdenken: Japan wurde pazifistisch.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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