Vier Bögen zur Geschichte der Grünen (IV)

Konsumismus und Strategie Den Konsumismus beseitigen wäre Systemveränderung. Das können nur die Konsumentinnen selber tun, eine mobilisierende und dann helfende Regierung würde aber auch gebraucht

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„Wir brauchen Veränderungen des Lebensstils, aber sie müssen von den Menschen kommen, weil mit Vorschriften viel geringere Effekte erzielt werden als mit Einsicht“, sagte Fritz Kuhn 2007
„Wir brauchen Veränderungen des Lebensstils, aber sie müssen von den Menschen kommen, weil mit Vorschriften viel geringere Effekte erzielt werden als mit Einsicht“, sagte Fritz Kuhn 2007

Foto: Thomas Niedermueller/Getty Images

mit dem ersten Bogen beginnen; hier zum zweiten, zum dritten Bogen

Man muss es offen sagen, die Grünen sind, was den Konsumismus angeht, nicht nur nicht vorangekommen, sondern haben verglichen mit ihrer Gründungszeit Rückschritte gemacht. Wie sich Fritz Kuhn 2007 zu der Frage äußerte, er war damals Bundessprecher seiner Partei, wird noch heute für deren Denken bezeichnend sein. Zum „Konsumverzicht“ befragt, antwortet er: „Wir brauchen Veränderungen des Lebensstils, aber sie müssen von den Menschen kommen, weil mit Vorschriften viel geringere Effekte erzielt werden als mit Einsicht.“ Richtig! Wenn nur berücksichtigt würde, dass „Vorschriften“ nicht nur vom Staat gesetzt werden, sondern auch von der kapitalistischen Wirtschaft. Oder wenn nicht Vorschriften, dann Zwänge. Ökologische Einsicht spräche etwa dafür, das Mengenverhältnis von Öffentlichem Verkehr und motorisiertem Privatverkehr umzukehren, das ändert aber nichts am Zwang zum Autofahren in einem Mobilitätssystem, wie es nun einmal eingerichtet ist. Die Autofahrer vom Staat her zu irgendetwas zu zwingen, wäre in der Tat ganz absurd, aber damit ist das Problem, dass sie vom Kapital gezwungen werden, nicht gelöst. Den Lebensstil ändern – wie soll das denn gehen?

Weiter Kuhn: „Manches müssen wir persönlich aus Einsicht machen, z. B. seltener Fleisch essen. In anderen Bereichen brauchen wir den Staat. Sie können von Berlin für 19 Euro nach Neapel fliegen. Wenn Sie im Norden Berlins wohnen, kostet das Taxi nach Schönefeld 50 Euro. Dieses Verhältnis stimmt nicht und das muss man ändern.“ Und zwar durch Bepreisung: „In einer Grünen Marktwirtschaft werden die Preise die ökologische Wahrheit sagen. Wer die Umwelt belastet, der muss mehr zahlen als jemand, der das weniger tut. Die Vergleichbarkeit zwischen den verschiedenen Verkehrssystemen ist ja nicht so schwer herzustellen.“ Da haben wir es wieder, das Allheilmittel Ökosteuer. Man kann es aber unmöglich als Problemlösung akzeptieren, da es dazu führt, dass sich an der Flugpraxis der Bessergestellten gar nichts ändert, während sich die Schlechtergestellten sagen, dass die Umwelt auf ihre Kosten saniert wird. Eine ökologische Politik, die das Volk spaltet, wird scheitern. Auf die Frage des Portemonnaies direkt angesprochen, sagt Kuhn: „Wir brauchen mehr soziale Gerechtigkeit und Beachtung der ökologischen Grundsätze. Es nützt nichts, das gegeneinander zu stellen.“ Richtig, aber das ist nur ein Postulat, keine Antwort, es ist im Grunde nur die Wiederholung der Frage.

Die Grünen setzen auf Marktmechanismen, sonst auf die Steigerung der ökologischen Effizienz, an der die Techniker in den Betrieben unablässig arbeiten. Indessen wird Kuhn erinnert: „Was durch die diversen Innovationen an Ökoeffizienz erreicht worden ist, ist regelmäßig durch den erhöhten Verbrauch wieder verzehrt worden.“ Das weiß er, und er sagt: „Solange der Staat verschuldet ist, gibt es gar keine Alternative zum quantitativen Wachstum. Das folgt aus der Zins- und Zinseszinsformel. Das Ideal wäre eine qualitative Wachstumsstrategie, die die ökologische Belastung Jahr für Jahr minimiert und die Abhängigkeit vom quantitativen Wachstum reduziert. Das geht nur über ausgeglichene Haushalte, weil dann der Staat nicht mehr wie heute ein Wachstumsmotor sui generis ist. Der Abbau der Staatsverschuldung ist darum eine der dringlichsten politischen Aufgaben.“ Dass aber das Kapital ein noch weit größerer Wachstumsmotor ist als der Staat, und dass der Staat es nur deshalb ist, weil das Kapital es ist, blendet er aus. Insofern fällt er hinter die Einsicht, über die seine Partei im ersten Jahrzehnt ihrer Existenz noch verfügte, weit zurück.

Sein Gesprächspartner Dieter Rulff fährt fort, ihn mit dem ökologischen Forschungsstand zu konfrontieren: „In etwa 15 Jahren ist der Zeitpunkt erreicht, ab dem der Klimawandel unumkehrbar wird. Die Erfahrung lehrt, dass kapitalistische Wirtschaftsprozesse, der Wettbewerb nationaler Standorte, die Innovationswillig- und -fähigkeit der Unternehmen ihrer eigenen Dynamik folgen. Reicht die Zeit, um umzusteuern?“ Die Zeit von 15 Jahren nach 2007, wir hätten dann jetzt noch drei Jahre. Die wirkliche Lage ist wohl noch weit dramatischer. Vor wenigen Tagen wurde gemeldet, dass die Abschmelzung des arktischen Eises ein Stadium erreicht hat, wie es die Klimaforscher erst für 2090 vorausgesagt hatten. Kuhn antwortet: „Ich bin der Überzeugung, dass man das schaffen kann, indem man klare Leitplanken setzt für die Märkte, und wenn man andererseits den Eifer der Leute in einer richtigen Weise mobilisiert, mehr zu tun.“ Diese Antwort zeigt vor allem, dass die Grünen genau wissen, worauf es ankäme. Aber tun sie denn selbst etwas dafür? Mobilisieren sie den Eifer der Leute? Wir sind wieder auf den Anfangspunkt zurückgeworfen - den Anfang dieses Gesprächs zwischen Rulff und Kuhn wie auch den Anfang der grünen Parteientwicklung -: Wie denn mobilisieren? Etwa dadurch, dass man die Leute zum Verzicht auffordert? Das geht nicht, aber ein anderer Weg wird auch nicht vorgeschlagen. Es wird überhaupt gar nichts vorgeschlagen und man könnte den Eindruck gewinnen, dass es nicht einmal ein Nachdenken gibt.

Klare Verhältnisse

Das Problem ist ja auch wirklich schwer lösbar. Es scheint aber, dass die Grünen einen Lösungsweg immer schon eingeschlagen und es nur noch nicht gemerkt haben – so wenig wie über Jahrzehnte der Schreiber dieses Textes. Und nicht nur er, sondern viele seinesgleichen. Wie es nicht darum gehen kann, die Grünen vom Standpunkt einer anderen Partei zu kritisieren, als ob es bessere gibt als sie, ist es noch weniger möglich, sich auf eine vorhandene publizistische Vernunft zu berufen, die von den Grünen nur noch nicht beachtet worden wäre. Man muss vielmehr sagen, dass sie, wenn auch nicht klug genug, immer noch klüger als all ihre Kritiker waren, mich eingeschlossen. Waren wir Publizisten nicht immerzu wütend, dass sie in Regierungen gegangen sind, ohne dort etwas zu erreichen? Jedenfalls ohne dass Durchbrüche gelungen wären?

Die Praxis hat nicht uns, sondern ihnen Recht gegeben. Denn trotz ihrer weitgehenden Wirkungslosigkeit sind sie immer stärker geworden und müssen sich vielleicht schon bald auf die Kanzlerschaft vorbereiten. Wie kommt das? Im Nachhinein sind wir klüger: Die Wählerinnen haben offenbar erkannt, dass eine Fünf- bis Zehnprozentpartei gar keine Chance hat, gegen ein kapitalistisches Zweidrittelkartell von SPD, CDU, CSU irgendwelche Schritte, die wirklich weiterführen würden, zu erreichen. Sie haben aber auch gesehen, dass die Grünen bei ihrer Sache geblieben und eine ständige Mahnung gewesen sind. Was hätte diese Partei denn sonst tun sollen? Nur für Forderungen konnte sie werben, das aber von der Regierungsbühne aus noch besser als von der parlamentarischen Bühne. Warum? Weil SPD oder CDU, indem sie mit ihnen koalierten, ihre Sache zwar ausgebremst, aber auch anerkannt haben. Dieser Selbstwiderspruch fällt ihnen, den alten „Volksparteien“, jetzt auf die eigenen Füße.

Wenn die Grünen demnächst vom Kanzleramt aus regieren, stehen ihnen nicht mehr die kapitalistischen Parteien entgegen, sondern sind sie mit dem Kapital selber unmittelbar konfrontiert. Und, machen wir uns nichts vor, sie werden auch da nicht gewinnen – nicht, wenn es beim bloßen Staatshandeln bleibt. Sehr viel mehr Wirkung als ein SPD-Kanzler oder eine CDU-Kanzlerin, die im Grunde nur so tun, als wollten sie wirken, können und müssen sie freilich entfalten. Durchsetzung der Diesel-Grenzwerte, Geschwindigkeitslimit auf der Autobahn, beschleunigter und besser koordinierter Ausbau des neuen auf Wind, Wasser und Sonne basierenden Energiesystems, diese und vergleichbare Projekte voranzubringen liegt dann ja in ihrer Hand. Den Konsumismus aber, der das Hauptproblem darstellt, wird keine grüne Regierung besiegen, das können die Konsumentinnen nur selber tun. Wendeten sich die Konsumentinnen gegen den Konsumismus, dann und nur dann hätte das Kapital verloren. Eine grüne Regierung kann da nur helfen und Flankenschutz geben – indem sie, wie Kuhn sagt, „den Eifer der Leute in einer richtigen Weise mobilisiert“. Wir sehen nun aber klarer, worin die grüne Hilfe bestehen könnte. Es nützt nichts, den Konsumentinnen Vorschriften machen zu wollen - aber auch der SPD, den Unionsparteien konnten die Grünen keine Vorschriften machen und haben doch etwas erreicht.

Das heißt also umgekehrt: Auch den Konsumentinnen, ihren eigenen Wählerinnen gegenüber können die Grünen sich auf den Standpunkt stellen, dass sie ihnen etwas vorschlagen, es aber nicht ihre Schuld ist, wenn die Vorschläge nicht angenommen werden. Die Konsumentinnen sind genauso sehr eine Macht, die sich nur selbst bewegen kann, wenn überhaupt etwas sie bewegt, wie SPD und Union eine solche Macht waren. Den Schritt, diese Parteien nicht mehr zu wählen, haben sehr viele Konsumentinnen schon getan, nun werden sie den nächsten tun oder es eben bleiben lassen. So sollte es von vornherein klare Verhältnisse zwischen den Bürgerinnen und einer von ihnen gewählten grünen Regierung geben. Was diese aber vorschlagen muss, ist hoffentlich ebenfalls klar: eine Zurückführung des Konsums bis dahin, dass der ökologische Fußabdruck von 1,8 Hektar pro Person in der Bundesrepublik nicht überschritten wird. Jedenfalls wäre das die Richtgröße und laut ausgesagte Zielangabe. Die Tätigkeit der Regierung bestünde zum einen darin, das Volk immer wieder, am besten Jahr für Jahr im penetrant wiederholten Wahlakt, nach seiner Haltung in dieser Sache zu befragen. Zum andern und parallel dazu würde sie die Klärung der Frage vorantreiben, was es überhaupt heißen kann, mit „1,8 Hektar“ auszukommen. Wenn man das so hinschreibt, kann man sich weder etwas darunter vorstellen, noch erscheint es überhaupt möglich. Es ginge aber um den Erweis, dass ein Existenzstil möglich ist, der mit viel weniger Mitteln, als der Konsumismus verbraucht, zu viel mehr Lebensglück führt. Sobald dazu „Modelle“ erarbeitet sind, können sie öffentlich diskutiert und in Feldversuchen auch ausprobiert werden. In einem fortgeschrittenen Stadium würde über ihre Verallgemeinerung abgestimmt, mit dem Ziel, dass alle, die so leben wollen, es auch können.

An diesem Punkt kommt die Wirtschaft ins Spiel, sie müsste „liefern“. Wenn die Bürgerinnen bestimmte Grenzen des Fußabdrucks wollen und innerhalb der Grenzen eine bestimmte Richtung der Güterproduktion, hätte die Wirtschaft sich daran zu halten. Sie wäre nicht mehr kapitalistisch, denn Kapitallogik ist Grenzenlosigkeit und orientiert auf Investitionen, die den meisten Profit versprechen, während man dann die Endlichkeit des Umweltraums respektiert und es innerhalb ihrer die Menschen sind, die sagen, was sie brauchen und was nicht. Zum Beispiel viel mehr Öffentlichen Verkehr, viel weniger Autos. Entscheidend ist, dass die Wirtschaft sich dem Demos beugen muss, der Demokratie, und über die Demokratie vermittelt dem ökologisch Zulässigen. Wenn Teile der Wirtschaft sich weigern, was dann? Dann gibt es Konflikt. Wenige oder viele Unternehmen auf der einen, das Volk auf der andern Seite stünden sich gegenüber. Die Regierung würde steuern und vermitteln. Würde sie? Kann man den Grünen diese Rolle zutrauen? Vielleicht nicht, aber es wäre notwendig. Man wird sehen, ob sie über die Konsumismusfrage zu diskutieren beginnen und das heute. Heute auch können sich alle, die wissen, dass sie betroffen sind, zum glücklicheren Existenzstil befragen und an damit zusammenhängenden Forschungsfragen zu arbeiten beginnen. Ob von den Grünen dazu aufgefordert oder nicht.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur „Politik“ (Freier Mitarbeiter)

Michael Jäger studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. für poststrukturalistische Philosophie an der Universität Innsbruck inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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