Visionär und gelähmt

EUROPAPARTEITAG DER GRÜNEN Die Partei, die keine Führungsgruppe hervorbringt

Die Partei sei »gelähmt«, nachdem sie sich in der Regierung nicht durchgesetzt und dann auch noch die Hessenwahl verloren habe, beschrieb einer die Lage. »In den Kreisverbänden herrscht eine tiefe Desillusionierung.« Es war spürbar: so fühlten alle. Umso mehr brauchten sie wegweisende Worte der Parteiführer, doch da kam nichts. Worte, ja; aber wie wenig Geist! Im Vorfeld des Parteitags hatte Joschka Fischer behauptet, das Problem liege in den Parteistrukturen. Will sagen, die Leithammel machen alles richtig, nur die Umsetzung läuft schief. Das ließ sich die Partei nicht einreden. Folglich ging man orientierungslos auseinander. Daß sie immer noch klüger sind als die Medien, ist ein schwacher Trost. Die Partei habe die notwendige Strukturreform verweigert, heißt es in den Kommentaren. So einfach ist das. Was Fischer sagt, ist notwendig. Eine süddeutsche Zeitung klagt, die Grünen träten in der Regierung weniger entschlossen auf als vormals die FDP. Es gelte noch immer, daß der größere Koalitionspartner auch vom kleineren abhängig sei. »Wer das nicht begriffen hat, wie will der die Kunst des Regierens lernen?«

Gegenfrage: Wer, wenn nicht die Medien, hat den Grünen zwei Jahrzehnte lang hündische Demut vor der SPD gepredigt? Wer hat ihnen beigebracht, eine Partei sei je »politikfähiger«, desto mehr Kröten sie schlucke? Als Garzweiler II durchgezogen wurde, wer hat den »Realos« nicht geraten, die Koalition mit Clement zu verlassen? Als Eichel, Hessens jetzt abgewählter Ministerpräsident, den Koalitionsvertrag brach und im Bundesrat dem Transrapid zustimmte, als Fischer dazu nur sagte, der Transrapid werde »sowieso nicht« gebaut, wer hat ihn nicht kritisiert? Nein, gerade von Fischer sind die Medien begeistert. Weil er die Demut verkörpert. Er war und ist für die Medien und auch für die Bevölkerung so etwas wie eine Todesmaske: man glaubt, er repräsentiere etwas Schreckliches, und ist dankbar, daß er trotzdem nichts verlangt. Deshalb hat er jetzt sogar den Kanzler an Popularität überrundet. In den Arm läßt er sich nehmen, aber ein Stratege ist er nicht. Da steht er nun und fordert, um überhaupt etwas zu sagen, die Abschaffung der Doppelspitze.

Das hat niemand erwartet: Wolfgang Ullmann, der scheidende Europa-Abgeordnete, und nicht Fischer hält die große umjubelte Rede. Nur nützt es der Partei wenig, weil Ullmann eben geht und nicht bleibt. Vor ihm stehe jetzt die schwerste aller Arbeiten, sagt er, die, sich aufs Sterben vorzubereiten. Was er zur Lage der Partei sagt, verstehen sie gar nicht, obwohl sie jubeln. Die Partei brauche keine Strukturreform, sondern müsse regieren lernen. Ganz offensichtlich sind es die Minister Trittin und Fischer, die seiner Meinung nach nicht regieren können. Trittin ist zu konfrontativ, Fischer zu weich aufgetreten. Die Klugheit läge dazwischen. Wenn zum Beispiel der Kanzler sagt, die Grünen bräuchten weniger Trittin und mehr Fischer, dann muß man zurückschlagen. Der Vorwurf richtet sich deutlich gegen Fischer, denn Trittin hat sich ja gewehrt, nur Fischer hütete sich, dem Kanzler eine Rüge zu erteilen. Der Getadelte hat verstanden. In seiner Rede antwortet er, es sei empörend, wie man »mit dem Jürgen« umgesprungen sei. Das kommt spät und bleibt vage.

Auch sonst ist seine Antwort enttäuschend. Er sei bereit, auf die Strukturreform zu verzichten, wenn die Partei bereit sei, regieren zu lernen. Sie müsse Vision mit Machbarkeit verbinden, an Visionen fehle es, die Partei sei langweilig geworden. Eine Strukturreform habe er ja nur vorgeschlagen, damit die Partei kampagnenfähig werde. So will er Kerstin Müller entgegenkommen, die vor dem Parteitag gesagt hatte, die Partei brauche keine Strukturreform, sondern Kampagnenfähigkeit. Sie kontert: Die Strukturreform sei nur ein Mittel im Machtkampf. Die Delegierten jubeln. Aber sie haben keine Alternative, denn nicht weniger enttäuschend als Fischers Rede ist Trittins Rede. Kein Wort zur alles entscheidenden Frage, ob die Rücknahme der Atomnovelle eine Niederlage war oder ein Schritt zum Regierenlernen. »Einstieg in andere Energien ist kein Minderheitenthema«, oh, oh, das klingt nach Niederlage. Warum sagt er das? Will er andeuten, daß Schröder den Atomausstieg verhindert? Und die Grünen trotzdem in der Regierung bleiben? Kein Wunder, daß die Basis gelähmt ist.

Auch die jetzt flügelübergreifende Antwort, die Partei brauche Kampagnenfähigkeit, greift zu kurz. Kann die Partei kampagnenfähig sein, wenn sie uneinig ist und nicht einmal versucht, sich zu einigen? In Erfurt war sichtbar, daß die Wortführer keine Führungsgruppe bilden, denn sie sprechen sich nicht ab, überhaupt sprechen sie nicht miteinander. Kerstin Müller will nicht, daß die Grünen sich der Staatsbürgerschaftspolitik der FDP anschließen, sonst trete für Millionen eine Verschlechterung der Rechtslage ein. Marieluise Beck plädiert dafür, die Reform des Staatsbürgerschaftsrechts möglichst schnell zu beschließen und dafür auch kompromißbereit zu sein, freilich nicht bedingungslos, damit die Union nicht noch mehr Stimmung gegen Ausländer machen könne. Es ist offensichtlich, sie haben nicht zusammengesessen. Aus solchen Positionen wäre doch eine Linie zu machen gewesen. Wenn eine Partei auch nach 20 Jahren eine Führungsgruppe aus Leuten, die sich ertragen, nicht hat, kann sie eigentlich nur noch untergehen. Die vorhandenen Parteistrukturen stehen der Herausbildung von Solidarität einer Führungsgruppe keineswegs entgegen. Aber wenn Fischer die Doppelspitze abschaffen will, bekämpft er genau die Möglichkeit solcher Solidarität. Lafontaine und Schröder können geschlossen auftreten, warum nicht Röstel und Radcke?

Wenigstens hat er von Visionen gesprochen. Es ist noch nicht alles verloren. Verloren wären sie, wenn sie wie Ludger Volmer dächten, der vor dem Parteitag geschrieben hat, nun werde es »nicht mehr besser«. Als sei die Partei in der Midlife-Krise wie ihre 50jährigen Männer. Ohne ihn zu nennen, widersprach Fischer Volmers Ansicht, die Partei habe mit fünf bis sieben Prozent ihr Limit erreicht. Niemand griff Volmers Methode auf, Ökologie nur als Wert zu begreifen und nur zu fragen, ob und wie er sich auf dem Wählermarkt noch verkaufe. Statt dessen erklärte Fischer, Ökologie, Menschenrechte und soziale Gerechtigkeit seien die Hauptfragen des 21. Jahrhunderts. Man sollte das nicht für eine Phrase halten. Sie sind nur hilflos. Visionär und gelähmt. Der Ökologie bleiben sie treu, sind aber unfähig, über sie noch nachzudenken. Wahrscheinlich wissen alle, daß genau dies die Parteikrise begründet, steckt ihnen doch der Schock der »Fünf-Mark-Debatte« in den Gliedern. Aber sie reden nicht miteinander. Radcke entdeckt das Freiheitsgefühl der Jugend beim Autofahren. Röstel will widersprechen, wenn Ökologen für Technologiefeinde gehalten werden. Müller reduziert Ökologie nicht auf Ökosteuern und den Atomausstieg, sondern sieht den Einstieg, bei dem alle »gewinnen«. Das ist der Debattenstand oder das wäre er, träten sie endlich ins brainstorming ein. Es könnte dann nur noch besser werden. Denn so, mit diesem Gerede, bleiben sie nicht in den Parlamenten.

Das Problem der Partei besteht darin, daß sie Energie und Materie trennt, als ob eins ohne das andere wäre: sie hat Ökologie zur puren Energiefrage gemacht. Sie kann daher nur noch über »Energiesteuern« nachdenken, die in Wahrheit verkappte Mehrwertsteuern sind, findet aber keinen Zugang zu den Fragen des Artenschutzes, hat die Lokale Agenda 21 verschlafen, bewährt sich nicht, wenn ein Öltanker ausläuft, und ist unfähig, Konzepte gegen den Selbstlauf des Verkehrs zu entwickeln. Ansätze zu »systemischen Verkehrslösungen«, die einmal diskutiert wurden, sind völlig vergessen. Daß immer mehr Autos produziert werden, daß Müntefering Verkehrsminister ist, daß der Transrapid offenbar doch gebaut wird, zu all dem fällt ihr nichts, aber auch gar nichts mehr ein. Diese Sünden sind nicht neu, neu ist nur, daß die Wähler wegbleiben. Es wurde auch Zeit. Es kann noch schlimmer kommen.

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Geschrieben von

Michael Jäger

Redakteur (FM)

studierte Politikwissenschaft und Germanistik. Er war wissenschaftlicher Tutor im Psychologischen Institut der Freien Universität Berlin, wo er bei Klaus Holzkamp promovierte. In den 1980er Jahren hatte er Lehraufträge u.a. an der Universität Innsbruck für poststrukturalistische Philosophie inne. Freier Mitarbeiter und Redaktionsmitglied beim Freitag ist er seit dessen Gründung 1990. 1992 wurde er erster Redaktionsleiter der Wochenzeitung und von 2001 bis 2004 Betreuer, Mitherausgeber und Lektor der Edition Freitag. Er beschäftigt sich mit Politik, Ökonomie, Ökologie, schreibt aber auch gern über Musik.

Michael Jäger

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